Das kleine große Weihnachtswunder

 

Noch vierundzwanzig Stunden bis Heiligabend. Das hieß, noch ein Mal schlafen und einen Tag warten.

Peter mochte Weihnachten, doch dieses Jahr freute er sich nicht darauf.

 

Vor ein paar Monaten hatte Papa seine Arbeit verloren und seitdem war nichts mehr wie zuvor.

Das Geld war knapp und Peters Eltern stritten sich ständig deswegen.

Mama hatte zwar ihren eigenen Friseursalon, doch der Vermieter wollte mehr Geld, weil alles teurer geworden war.

 

Als Papa seine Kündigung erhielt, kam er abends nach Hause, setzte sich aufs Sofa und nahm Peter in den Arm.

„Alles wird gut, wir werden das schon schaffen“, sagte er.

Peter nickte nur und wischte sich die Tränen aus dem Gesicht.

Jetzt musste er stark sein und Papa helfen, damit sie gut über die Runden kamen.

Er war ja schon ein großer Junge.

Peter wusste, dass das Haus abbezahlt werden musste und die Bank ihre monatlichen Raten einforderte.

Gnadenlos und ohne Schonfrist.

Peter saß in seinem Zimmer und dachte nach.

Papa hatte noch immer keine neue Arbeit gefunden.

Früher war er Monteur in einem großen Werk gewesen, das Autos in die ganze Welt exportierte.

Doch die Firma musste Mitarbeiter entlassen, weil es nicht mehr so viel zu tun gab.

Manchmal half Papa jetzt bei Onkel Bernhard aus, der einen Malerbetrieb hatte.

„Wenn ich groß bin, möchte ich auch Chef sein wie Onkel Bernhard. Dann lasse ich andere für mich arbeiten und niemand kann mich entlassen“, dachte Peter.

Doch jetzt hatte er erstmal andere Sorgen.

 

Es klopfte an Peters Zimmertür und Mama kam herein.

Sie sah müde und angespannt aus.

Bestimmt hatte sie einen anstrengenden Tag hinter sich.

Mama setzte sich neben Peter aufs Bett und strich ihm sanft übers Haar.

„Mein Großer“ sagte sie „ich habe dich so, so lieb.“

Peter schluckte.

Er hatte Mama auch lieb, doch er wusste, dass jetzt keine guten Nachrichten kamen.

„Weißt du, ich habe mir immer gewünscht, einen Jungen zu haben. Einen Jungen wie du. Das Leben hat mich reich beschenkt, denn mein größter Traum ist wahr geworden. Ich habe dich gekriegt. Deshalb wünsche ich mir so sehr, dass auch deine Träume in Erfüllung gehen und dass du alles bekommst, was du dir wünscht.“

Peter sah Mama an und lächelte.

Doch ihr trauriger Blick ging geradeaus.

„Weißt du, wir Erwachsenen wünschten uns manchmal, dass die Dinge anders laufen. Doch wir haben nicht immer die Macht, sie zu ändern und müssen akzeptieren wie sie sind."

Peter blickte nach unten und flüsterte:

„Es gibt keine Geschenke, stimmt's?“

Dann sah er Mama von der Seite an.

Sie sah ihm in die Augen und nickte.

Ein paar dicke Tränen rannen über ihre Wangen und plumpsten auf ihren rosaroten Wollpullover.

Sie nahm Peter noch fester in den Arm.

Jetzt weinten beide um dieses Weihnachten, das diesmal ganz anders sein würde.

 

Am nächsten Tag wachte Peter früh auf.

Draußen war es noch dunkel, doch fiel ein fahles Licht ins Zimmer.

Peter sprang aus dem Bett, lief zum Fenster und schaute hinaus.

Der Garten, die Einfahrt und die gesamte Landschaft lagen unter einer dicken Decke aus Schnee.

Vom Himmel fielen weiche Flocken, die lautlos auf der Erde landeten.

Die ganze Umgebung war weiß und der Schnee glitzerte im Licht des Mondes.

Peter lächelte.

Er hatte nicht erwartet, dass es über Nacht schneien würde.

Vielleicht war das ein Zeichen und Weihnachten würde doch schön werden?

Peter beschloss, wieder an das Gute zu glauben und die traurige Stimmung vom Tag zuvor zu vergessen.

Er setzte sich ins Bett, wickelte sich in seine Decke und begann, dem Weihnachtsmann einen Brief zu schreiben.

 

Lieber Weihnachtsmann,

 

ich heiße Peter und wohne in der Fichtenstraße 13.

Gestern war ich sehr traurig, weil es in diesem Jahr keine Geschenke gibt. Das hat Mama gesagt.

Ich kann mir nicht vorstellen, wie Weihnachten ohne Geschenke ist, aber wir haben kein Geld und deshalb habe ich ein bisschen Angst, dass es schlimm wird.

Früher lagen immer Pakete unter dem Weihnachtsbaum und das hat mich sehr glücklich gemacht.

Ich wünsche mir so sehr, dass du uns nicht vergisst und bei uns vorbei kommst.

Wir wohnen im letzten Haus hinter der Kurve.

 

Dein Peter

 

Peter las den Brief noch einmal, faltete ihn und legte ihn aufs Fensterbrett.

Dann stellte er den steinernen Marienkäfer drauf, den ihm seine Schwester Rita im Sommer geschenkt hatte.

Peter warf noch einmal einen Blick auf die Landschaft, die immer mehr im Schnee versank.

Dann schlüpfte er schnell aus seinem Schlafanzug, zog sich an und ging nach unten.

 

Am Nachmittag hatte Papa die gesamte Auffahrt freigeschaufelt und einen Teil der Straße geräumt, weil der Schneepflug noch nicht dagewesen war.

Peter und Rita stapften durch den Schnee und zogen ihren kleinen Holzschlitten hinter sich her.

Sie gingen zu einem kleinen Hügel in der Nähe, wo sie jeden Winter mit ihren Schlitten und Bobs den Berg hinunter fuhren.

Es schneite noch immer und die dicken Schneeflocken setzten sich an ihrer Kleidung fest.

Doch das Schlittenfahren machte besonders viel Spaß, weil es noch keine richtige Piste gab und jedes Mal, wenn sie am Fuße des Hügels ankamen, landeten sie in den hohen Schneemassen und fielen von ihrem Gefährt.

Dann blieben sie noch ein paar Minuten im Schnee liegen und schauten in den Himmel, bis die Schneeflocken ihre Augen verklebten und sie nichts mehr sahen.

 

Es dämmerte schon langsam, als sie nach Hause kamen.

Peter stellte den Schlitten in den Gartenschuppen.

Als er wieder ins Freie kam und die Holztür hinter sich schloss, stand plötzlich ein kleines Eichhörnchen vor ihm.

Es stand nur einige Meter entfernt, starrte ihm direkt in die Augen und lächelte.

Ein Eichhörnchen, das lächelte.

So etwas gab es doch nicht!

Peter schaute etwas genauer hin und konnte deutlich sehen, dass die Mundwinkel des Tieres nach oben gingen und die kleinen Vorderzähne hervorlugten.

Peter kam es vor, als wollte ihm das Tier etwas mitteilen. Ihm sagen wollen, dass alles gut werden würde.

Plötzlich war das Eichhörnchen verschwunden und Peter war sich nicht mehr sicher, ob es auch wirklich da gewesen war.

Doch während er langsam ins Haus ging, spürte er, wie es um sein Herz herum ganz warm wurde.

 

Papa schmückte mit Rita zusammen den Weihnachtsbaum, den sie zwei Wochen zuvor in einem Supermarkt gekauft hatten.

Mama war noch nicht da. Wahrscheinlich stand sie noch im Laden und schnitt den Kunden die Haare. Oder föhnte und strich Haarfarbe auf die Köpfe.

„Willst du die Kerzen dranmachen?“ fragte Papa.

Peter nickte.

Er öffnete die Schachtel, in der die silbernen Kerzenhalter lagen und machte jeweils eine rote Kerze dran.

Dann stellte er sich auf einen Schemel und steckte die Kerzen an den Baum.

Er fing bei den oberen Astreihen an und arbeitete sich langsam nach unten.

Doch als er in der Mitte des Baumes anlangte, war keine einzige Kerze mehr übrig.

Was war da los?

Peter, Rita und Papa stellten sich vor den Baum und sahen ihn an.

Die oberen Äste hingen schwer herab, weil sie die vielen Kerzen kaum tragen konnten.

Unten, wo der Baum fest und stabil war, blieb er nackt und leer.

„Das sieht aber komisch aus“ sagte Rita und fing an zu lachen.

Da mussten auch Peter und Papa lachen, weil der Baum nicht aussah wie ein freundlicher Weihnachtsbaum, sondern eher wie ein trauriges Wesen, dem man etwas angetan hatte.

 

„Kommt, wir machen unseren Baum jetzt wieder fröhlich“, sagte Papa.

Er machte die Musikanlage an und legte eine CD mit lustigen Weihnachtsliedern ein.

Peter und Rita sangen mit.

Dann dekorierten sie den Baum noch einmal um: die Kerzen und alles, was schwer war, nach unten, die leichten Sachen nach oben.

Zum Schluss behingen sie die Äste noch mit viel Lametta, sodass der Baum nur so funkelte und glitzerte.

Sowas hatten sie noch nie gemacht.

Als sie fertig waren, betrachteten sie ihr Meisterwerk.

Peter war sich sicher: das war der schönste Weihnachtsbaum, den sie jemals hatten.

„Das habt ihr toll gemacht“ sagte Papa und lächelte.

Peter war glücklich, auch weil er Papa seit langem wieder lächeln sah.

„Es hat wieder angefangen zu schneien!“, rief Rita.

Schnell liefen sie zum Fenster und schauten hinaus.

Dicke Flocken fielen vom Himmel und wirbelten durch die Luft.

Die Einfahrt war schon wieder zugeschneit und auf der Straße bildete sich eine dicke Schneeschicht.

"Hoffentlich bleibt der Weihnachtsmann mit seinem Schlitten nicht im Schnee stecken", dachte Peter.

Da fiel ihm der Brief wieder ein, den er am Morgen geschrieben hatte.

 

Er rannte in sein Zimmer, lief zum Fenster und nahm den steinernen Marienkäfer in die Hand.

Der Brief war weg und an der Stelle, wo Peter ihn abgelegt hatte, lag eine kleine weiße Daunenfeder.

Verträumt blickte Peter aus dem Fenster.

Der Schnee fiel nun immer dichter und in großen Fetzen vom Himmel.

Es war, als ob sich im Himmel eine Schleuse geöffnet hatte, durch die die Flocken auf die Erde herab fielen.

Irgendwoher aus der Ferne kam ein warmes, weiches Licht.

 

Später saßen sie alle zusammen im Wohnzimmer und aßen Würstchen mit Kartoffelsalat, so wie jedes Jahr.

"Ob Rita schon wusste, dass es diesmal keine Geschenke gibt?" dachte Peter.

Er sah Mama an, die müde und ein wenig traurig wirkte.

Papa hingegen war beschwingt und fröhlich.

„So viel Schnee!“, staunte er.

„Ja, und einen so schönen Weihnachtsbaum haben wir“, sagte Rita begeistert.

„Dieses Jahr ist ein wirklich besonderes Weihnachten“, meinte Papa.

Peter lächelte still in sich hinein, weil er an den verschwundenen Brief und an die Feder denken musste.

Aber so ganz sicher war er sich auch nicht, ob der Brief nicht doch irgendwo auf den Boden gefallen war.

 

„Heute kam eine Kundin in den Laden, die einen neuen Haarschnitt wollte", erzählte Mama.

"Es war eine nette, alte Dame und sie verriet mir, dass sie dieses Jahr Weihnachten ganz anders feiern wollte. So wie früher, als sie noch ein Kind war. Deshalb schrieb sie dem Weihnachtsmann vor ein paar Wochen einen Brief und führte alles auf, was sie sich von Herzen wünschte. Als sie damit fertig war, faltete sie den Brief und legte ihn in ihrem Wohnzimmer auf das Fensterbrett. Jeden Tag sah sie nach, ob der Weihnachtsmann den Brief abgeholt hatte. Doch nichts geschah. Sie war sehr traurig, weil sie dachte, dass er sie vergessen hätte.

Doch heute Morgen war etwas anders. Denn als sie vor dem Frühstück nach dem Brief sah, war er nicht mehr da.“

„Vielleicht hat ihn ihr Mann heimlich gelesen und versteckt“, meinte Papa und zwinkerte fröhlich in die Runde.

„Nein, die Dame wohnt alleine und hatte seit Wochen keinen Besuch mehr.

Peter schluckte und fast wäre es aus ihm herausgeplatzt: „So wie bei mir!“

Doch er sagte nichts, weil er die stille Hoffnung hatte, dass es der Weihnachtsmann persönlich war, der seinen und den Brief der alten Dame eingesammelt hatte.

Und dieses Geheimnis wollte er für sich behalten.

 

„Peter, Rita, bitte helft Mama in der Küche, ja?“ sagte Papa, als sie fertig gegessen hatten.

Peter stellte die schmutzigen Teller in den Geschirrspüler und Rita half Mama beim Verräumen der Essensreste.

Als alles sauber war und die Spülmaschine brummte, gingen sie zurück ins Wohnzimmer.

Dort war alles dunkel und Papa nicht mehr da.

Als sie gerade Licht machen wollten, kam ein weißer Engel aus dem Raum.

Er hielt eine Kerze in der Hand und sah ein wenig aus wie Papa.

„Fröhliche Weihnachten, ihr Lieben“ sagte er.

Dann stellte er die Kerze auf den Tisch und umarmte alle.

Er sah lustig aus in seinem Engelskostüm und mit dem flauschigen Stirnband um den Kopf.

„Da sind Geschenke“, rief Rita laut und zeigte Richtung Baum.

„Fröhliche Weihnachten“, sagte Mama und lachte.

Peter sah Mama an.

Sie war wirklich überrascht und hatte feuchte Augen.

Peter bekam ein Paar neue Sneakers, Rita einen lilafarbenen Elfenpulli.

Mama kriegte ein Parfum und Papa ein Paar schwarze Socken.

„Der Weihnachtsmann wollte wohl besonders originell sein“, meinte Papa, als er sein Geschenk auspackte.

„Er hat zumindest an alles gedacht“, lachte Mama, der man ihre Verwunderung immer noch ansah.

„Dieses Jahr ist ein wirklich besonderes Weihnachten“, sagte Peter "ich habe es mir ganz anders vorgestellt."

Er hatte vor Aufregung ganz rote Backen und war glücklich.

Mit seinen neuen Schuhen an den Füßen stand er am Fenster und schaute in die Dunkelheit.

Draußen lag mindestens ein halber Meter Schnee und es wollte nicht aufhören zu schneien.

"Hoffentlich schafft es der Weihnachtsmann bis zu uns", dachte Peter.

 

Mittlerweile war es sehr spät geworden.

Peter schlüpfte in seinen Schlafanzug, putzte sich die Zähne und kuschelte sich unter die Bettdecke.

Bevor er die Augen zumachte, sah er wieder das warme, weiche Licht, das durch einen kleinen Vorhangspalt ins Zimmer fiel.

Dann schlief er ein.

 

Mitten in der Nacht wurde Peter geweckt.

Zuerst hörte er ein Knirschen, dann ein Klappern und schließlich machte unten jemand die Haustür zu.

Peter wickelte sich noch fester in seine warme Bettdecke und drehte sich auf die andere Seite.

Er war müde und wollte weiterschlafen.

Doch als er das Schnauben eines Tieres und das metallene Rasseln von Pferdegeschirr hörte, fiel ihm wieder ein, dass Weihnachten war.

Mit einem Satz sprang er aus dem Bett, schob die Vorhänge zur Seite und schaute hinaus.

 

Die Wolken hatten sich verzogen und es hatte aufgehört zu schneien.

Peter konnte den Mond sehen, der sein sanftes Licht über die weiße Landschaft verteilte.

Die Nacht war klar und am Himmel reihte sich ein Stern an den anderen.

So etwas Schönes hatte Peter noch nie gesehen.

 

Unten vor dem Haus war es ruhig. Nur in der Einfahrt waren im Schnee ein paar Spuren zu sehen.

Als Peter zur Straße blickte und von dort zu dem Weg, der Richtung Schlittenhügel führte, konnte er es sehen.

„Der Weihnachtsmann!“, flüsterte er.

 

Er trug einen dicken Mantel, der bis zum Boden reichte. Seine Kapuze fiel ihm tief ins Gesicht und war mit dunklem Fell besetzt. Das bildete einen schönen Kontrast zu einem langen weißen Bart, der dem Weihnachstmann bis zum Gürtel wuchs.

In der einen Hand trug er einen Stock und mit der anderen führte er ein braunes Pferd, das gemächlich neben ihm her trabte. Der Schlitten, den es hinter sich herzog, war voll beladen mit Geschenken und kleinen Tannenbäumen, die wie Puderzucker mit einer leichten Schneeschicht überzogen waren.

Auf dem Rücken des Pferdes und auf dem Schlitten hatten es sich ein paar kleine Engel gemütlich gemacht. Sie hielten die Zügel in der Hand und halfen dem Weihnachtsmann, den Schlitten zu lenken.

 

Jetzt sah Peter auch das warme, weiche Licht, das vor dem Weihnachtsmann auf den Boden fiel.

Es kam von einer Laterne, die ein fliegender Engel in der Hand trug, um dem Schlitten den Weg auszuleuchten.

 

Peter hielt den Atem an und drückte seine Nase an die Fensterscheibe.

Doch ehe er sich versah, war der Weihnachtsmann weg und mit seinem Schlitten hinter dem Hügel verschwunden. Nur noch ein schmaler Lichtfaden suchte sich den Weg durch die Dunkelheit.

Draußen war es jetzt ruhig und still.

 

Peter rieb sich die Augen und gähnte.

Um sein Herz war es warm geworden war und er musste an die alte Dame aus Mamas Frisörsalon denken.

 

 

 

Copyright © 2019 Christina Vikoler

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