Die kleine Meerjungfrau

 

Heute schneit es.

Tom und Ida verbringen den letzten Tag ihrer Weihnachtsferien bei Oma und bauen im Garten einen Schneemann. Der Bauch ist schon fertig, es fehlen nur noch Kopf und Arme. Schnell formen die beiden eine Kugel für den Kopf und dann noch zwei kleine Kugeln für die Arme.

Es weht ein kalter Wind und der Schnee klatscht ihnen ins Gesicht. Doch Tom und Ida haben so viel Spaß, dass sie die Kälte gar nicht bemerken.

Als die Arme drangemacht sind, läuft Ida ins Haus und holt eine Karotte für die Nase und zwei kleine Kartoffeln für die Augen.

Tom und Ida wischen sich den Schnee aus dem Gesicht und betrachten ihr Werk.

Der Schneemann ist echt toll geworden! Doch irgendetwas fehlt...

„Ich weiß was“, ruft Tom und holt ein paar Walnüsse aus dem Haus. Damit macht er dem Schneemann einen Mund.

„Der Schneemann sieht aber traurig aus“, meint Ida.

„Du hast recht“, gibt Tom zu, „ausnahmsweise.“

Er greift in den Schnee und wirft Ida einen Schneeball, der auf ihrem Jackenärmel landet.

„Autsch!“ schreit Ida.

Tom grinst und schwupsdiwups macht er dem Schneemann einen lachenden Mund.

Jetzt sieht er schon viel fröhlicher aus!

 

Oma kommt aus dem Haus und ruft die Kinder.

„Ist euch denn nicht kalt? Kommt ins Haus, es gibt Kakao.“

Tom und Ida zeigen Oma den Schneemann.

„Toll habt ihr das gemacht!“ Oma ist begeistert.

„Aber wenn ich mir euren Schneemann so anschaue, könnte er noch etwas gebrauchen...“

Oma läuft ins Haus und kommt mit zwei Sachen zurück. Zuerst bindet sie dem Schneemann einen hellgrünen Schal um, dann setzt sie ihm noch eine lustige Weihnachtsmütze auf.

 

Was für ein besonderer, einzigartiger Weihnachtsmann dieser Schneemann doch geworden ist!

Die drei lachen und laufen schnell ins Haus, um sich aufzuwärmen.

 

Während Oma den heißen Kakao in die Tassen gießt, fragt sie:

„Na, ihr beiden, habt ihr Lust auf eine Geschichte?“

„Niemals!“ ertönt es im Chor.

Alle lachen, denn natürlich wollen Tom und Ida eine Geschichte hören. Sie lieben Omas Geschichten!

Oma macht ein kleines Teelicht an und streicht mit einer Hand die Tischdecke glatt.

 

„Also gut, dann werde ich euch die Geschichte von der kleinen Meerjungfrau erzählen...“

„Die kenne ich schon, hat mir Mama mal erzählt“, ruft Tom enttäuscht.

„Du meinst bestimmt das Märchen von Hans Christian Andersen. Ja, da gibt es auch eine kleine Meerjungfrau. Aber die kleine Meerjungfrau, von der ich euch erzähle, ist eine andere. Es gibt nämlich sehr viele kleine Meerjungfrauen...“

Tom ist zufrieden und sieht Oma erwartungsvoll an.

 

"Es war einmal eine kleine Meerjungfrau. Sie war jung, fast noch ein Kind, und lebte mit ihrer Familie weit unten am Meeresgrund. Dort, in den Tiefen des Meeres gab es nämlich eine Stadt, die aus purem Gold war.

In dieser Stadt waren nicht nur die Häuser aus reinstem Gold, sondern auch die Straßen. Und die Dächer waren verziert mit leuchtenden Kristallen. Überall glitzerte und funkelte es und die vielen Fische, die vorbei schwammen, hatten ihre Freude an dem herrlichen Glanz.

 

In dieser wunderschönen Stadt lebte die kleine Meerjungfrau.

 

Wie fast alle Meerjungfrauen hatte die kleine Meerjungfrau hell schimmernde Haut und eine Schwanzflosse mit glitzernden Schuppen. Damit konnte sie sich leicht und anmutig durch das Wasser bewegen.

Die kleine Meerjungfrau war also eine ziemlich gewöhnliche Meerjungfrau.

Doch Moment, so ganz gewöhnlich war sie auch wieder nicht, denn sie hatte eine Eigenart: Die meiste Zeit fühlte sie sich anders als die anderen.

Sie glaubte, weniger schön, weniger klug und vielleicht auch weniger lustig zu sein als zum Beispiel ihre Schulfreundinnen.

Die kleine Meerjungfrau war überzeugt, dass irgendetwas nicht mit ihr stimmte.

Und das ließ sie sich auch von niemanden ausreden.

 

Auf den ersten Blick hatte die kleine Meerjungfrau eigentlich keinen Grund, so von sich zu denken, doch vielleicht gab es dann doch eine Erklärung, weshalb sie sich so fühlte.

Seit ihrer Geburt hatte die kleine Meerjungfrau auf ihrer rechten Wange einen großen, dunklen Fleck. Es war so eine Art Muttermal, das nicht besonders schlimm war und manchen erst gar nicht auffiel. Aber die kleine Meerjungfrau sah diesen Fleck als Makel. Und da niemand sonst in der goldenen Stadt einen solchen Makel hatte, fühlte sie sich anders und weniger schön.

 

Sie kapselte sich immer mehr ab, weil sie glaubte, dass ihre Mitschüler das Gleiche dachten, wie sie von sich selbst. Die anderen Meerjungfrauen hingegen glaubten, die kleine Meerjungfrau sei stolz geworden, weil sie nicht mehr so viel Zeit mit ihnen verbrachte.

 

„Die kleine Meerjungfrau tut mir leid“, meint Ida traurig.

„Timo hat auch so einen dunklen Fleck auf dem Arm. Das sieht schon komisch aus.“ erwidert Tom.

„Und, ist Timo deshalb traurig?“ fragt Oma.

„Nein, bestimmt nicht.“

Oma lächelt und gießt allen Kakao nach. Draußen schneit es noch immer.

 

„Wie gesagt, anstatt in den goldenen Straßen der Stadt zu spielen oder mit ihren Freunden Abenteuer zu erleben, verbrachte sie lieber Zeit allein.

Die kleine Meerjungfrau liebte es, bis zur Meeresoberfläche zu schwimmen und das Spiel des Lichts zu beobachten. Manchmal schwamm sie sogar bis zu einer einsamen Grotte, wo sie stundenlang den Sonnenstrahlen zusah.

In dieser einsamen Grotte fühlte sich die kleine Meerjungfrau geborgen und aufgehoben. Manchmal verfiel sie dort in Träumereien und stellte sich vor, wie ihr Leben wäre, wenn sie diesen Makel nicht hätte. Sie wäre dann wie alle anderen. So schön, so klug und so lustig. Oder vielleicht noch ein bisschen mehr.

 

Eines Tages geschah etwas Sonderbares.

Die kleine Meerjungfrau ließ sich gerade im seichten Wasser der einsamen Grotte treiben. Sie lag auf dem Rücken und beobachtete einen Lichtstrahl, der durch eine kleine Felsöffnung ins Wasser fiel. Als sie von der Meeresströmung an den Strand gespült wurde, spürte sie an ihrer Schwanzflosse plötzlich einen Pieks.

 

„Hey, kannst du nicht aufpassen?“

Die kleine Meerjungfrau blickte sich um.

„Was ist los? Hast du Seetang in den Ohren?“

Die kleine Meerjungfrau wusste nicht, wer mit ihr sprach, denn sie sah niemanden.

„Kannst du mal kurz von hier verschwinden, damit ich wieder Luft kriege?“, sagte die Stimme zornig.

Da hob die kleine Meerjungfrau ihre Flosse und legte sie zur anderen Seite.

„Na endlich, ich dachte schon, ich ersticke!" Die Stimme japste nach Luft.

Als die kleine Meerjungfrau genauer hinsah, bemerkte sie einen kleinen Seeigel.

„Tschuldigung“, sagte sie „ich habe dich nicht gesehen.“

 

Ein Hauch von Röte stieg in ihr Gesicht. Sie schämte sich, dass sie den Seeigel fast zerdrückt hätte.

Der Seeigel schüttelte sich den Sand von seinen Stacheln und grummelte vor sich hin. Dann sah er auf und starrte die kleine Meerjungfrau an.

„Du bist ja eine wunderschöne Meerjungfrau! Und ich dachte, du bist eine von diesen schrulligen alten Schildkröten, die hier manchmal stranden. Ich will dich kennenlernen."

 

Die kleine Meerjungfrau schaute den Seeigel unsicher an. Mit einem Mal fühlte sie sich bedroht und spürte, wie ihr Gesicht heißer wurde.

„Habe ich dich durcheinander gebracht?“ sagte der Seeigel und fing an zu lachen.

 

Das brachte die kleine Meerjungfrau völlig aus dem Konzept. Sie drehte sich um und glitt schnell zurück ins Meer.

Dieses fiese Tier hatte sie nicht nur angelogen, sondern sich auch lustig über sie gemacht! Die kleine Meerjungfrau war wütend und traurig zugleich.

 

Als sie wieder in der goldenen Stadt war, ging ihr der Seeigel nicht mehr aus dem Kopf. Denn das, was er gesagt hatte, passte nicht zu dem, was sie über sich selbst dachte.

 

„Oma, hat der Seeigel die kleine Meerjungfrau wirklich angelogen?“ fragt Ida.

„Warte mal ab. Weißt du, manchmal wissen wir selbst nicht immer so genau, was die Wahrheit und was eine Lüge ist.“

„Erzähl weiter, Oma“, bittet Tom.

 

„Die kleine Meerjungfrau wollte den Vorfall so schnell wie möglich vergessen. Doch so einfach ging das nicht.

Auch am nächsten Tag musste sie die ganze Zeit an den Seeigel denken. Sie war sich nicht mehr sicher, ob er sie wirklich angelogen hatte. Und je länger sie darüber nachdachte, desto klarer wurde ihr, dass sie die Wahrheit wissen musste. Und so nahm sie all ihren Mut zusammen und schwamm zu der einsamen Grotte.

 

Doch als sie dort ankam, war der Strand voller Seeigel. Es waren nicht nur zehn oder zwanzig, es waren hunderte. Der kleine Seeigel hatte seine gesamte Verwandtschaft mitgebracht!

Aber das Allerschlimmste war, dass alle Seeigel gleich aussahen. Wie sollte sie denn da den einen finden?

 

Ängstlich schwamm die kleine Meerjungfrau Richtung Strand.

Plötzlich löste sich ein Seeigel aus der Gruppe und kam auf sie zugeschwommen.

„Da ist ja wieder die schöne Meerjungfrau!“ rief er so laut, dass es alle hörten.

Alle Seeigelaugen richteten sich auf sie.

 

Vor lauter Schreck drehte die kleine Meerjungfrau um und schwamm schnell hinaus ins freie Meer.

Wie gemein dieser Seeigel doch ist, dachte sie, und ein Lügner obendrein. Sie hätte nicht herkommen sollen!

 

Doch der Seeigel ließ nicht locker und rief ihr hinterher.

„Halt, bleib hier. Ich möchte, dass meine Freunde dich kennenlernen. So eine Schönheit wie dich haben sie noch nie gesehen.“

Da drehte sie sich noch einmal um und sah, wie sich die Seeigel zunickten und im Chor murmelten:

„Sie ist so schön, so wunderschön!“

 

In dieser Nacht konnte die kleine Meerjungfrau nicht einschlafen. Sie lag in ihrem Bett aus purem Gold und fragte sich, was sie nun glauben sollte.Wer war sie? Wie war sie wirklich?

 

Tags darauf machte die kleine Meerjungfrau mit ihrer Familie einen Ausflug. Sie wollten zum blauen Korallenriff, das sich in der Nähe der goldenen Stadt befand.

 

Auf ihrem Weg zum Riff entdeckten sie ein altes Schiffswrack. Still lag es da, überwuchert von unzähligen Muscheln und Algen.

„Komm, wir schauen uns das alte Teil an“, sagte ihre Schwester.

Die kleine Meerjungfrau zögerte. Das Wrack flößte ihr Angst ein und ihre Eltern ermahnten sie, vorsichtig zu sein.

„Vielleicht entdecken wir einen Schatz, los!“ forderte ihre Schwester.

Zögerlich schwamm die kleine Meerjungfrau ihrer Schwester hinterher.

 

Bald entdeckten die sie eine Tür, die in das Innere des Schiffswracks hinein führte. Vorsichtig schwammen die Gänge entlang, von denen aus sie in die einzelnen Kammern und Kajüten sehen konnten. Alles war marode und voller Schlamm.

 

Als sie in den hinteren Teil des Schiffes gelangten, fanden sie ein Zimmer, das mindestens doppelt so groß war wie alle anderen.

„Das war bestimmt die Kapitänskajüte“, meinte ihre Schwester.

Von der Decke hing schief ein Kronleuchter aus Kristall und überall verstreut lagen Messinstrumente und Bücher.

Die kleine Meerjungfrau blickte sich fasziniert um.

 

Da entdeckte sie plötzlich einen Gegenstand aus Metall. Er lag auf dem Boden, versteckt unter einer dünnen Schicht aus Sand und Schlamm. Nur ein silberner Griff lugte hervor.

„Lass uns von hier weg!“ hörte sie ihre Schwester in diesem Moment rufen.

Ohne lange darüber nachzudenken, schnappte sich die kleine Meerjungfrau den Gegenstand und folgte ihrer Schwester an Deck. Es war sonst nicht ihre Art, fremde Sachen einfach mitzunehmen, aber irgendetwas an dem Ding hatte sie magisch angezogen.

 

„Oma, was war das für ein Ding?" will Ida wissen.

Tom schneidet seiner Schwester eine Grimasse.

„Das wirst du bestimmt gleich erfahren, du Dussel.“

„Hört auf“, sagt Oma. Sie mag es nicht, wenn die beiden sich streiten.

 

Dann erzählt sie weiter.

 

„Noch am selben Abend holte die kleine Meerjungfrau den magischen Gegenstand aus ihrer Tasche. Er war schmutzig, voller Sand und musste erst sauber gemacht werden. Doch während die kleine Meerjungfrau putzte und polierte, erschien nach und nach das Gesicht - einer Meerjungfrau!

 

Vor lauter Schreck ließ sie den Gegenstand fallen, machte einen Schrei und holte ihre Mutter.

 

Diese brach in großes Gelächter aus, als sie sich das Ding ansah.

 

„Das ist ein Spiegel, mein Schatz“, sagte sie. „In einem Spiegel kannst du dich selbst erkennen. Weißt du, Spiegel gibt es nur bei den Menschen. Denn sie müssen immer wieder überprüfen, wer sie sind und wo sie stehen.

Wir Meerjungfrauen hingegen brauchen keine Spiegel, weil wir von Beginn an wissen, dass wir schön und einzigartig sind. Es ist die Weisheit in unserem Herzen, die uns immer sagt, wer und was wir sind."

 

Da fing die kleine Meerjungfrau an zu weinen. Und sie weinte und weinte, bis keine Tränen mehr übrig waren. Und mit all diesen Tränen wurden die Traurigkeit über das Anderssein, alle Zweifel an sich selbst aus der kleinen Meerjungfrau heraus geschwemmt.

Als sich die kleine Meerjungfrau beruhigt hatte, blickte ihre Mutter sie ernst an und hielt der kleinen Meerjungfrau den Spiegel vor.

 

„Was siehst du?“ fragte sie.

„Ich sehe mich.“

„Und was siehst du noch?“

„Ich sehe eine Meerjungfrau."

"Und wie ist sie?"

"Sie ist wunderschön!"

„Jetzt frage ich dich. Hast du denn jemals jemanden gesehen, der so aussieht wie diese wunderschöne Meerjungfrau?"

„Ähm, ich glaube nicht.“

 

Ihre Mutter schaute sie liebevoll an.

 

„Na siehst du. Und jetzt verrate ich dir etwas. Im ganzen Universum gibt es niemanden, der so aussieht wie du. Der so ist wie du. Du denkst, dass du anders bist als die anderen. Aber es ist vollkommen normal, anders zu sein. Denn jeder ist anders. Niemand ist gleich wie der andere. Ist das nicht ein Wunder?“

 

Die kleine Meerjungfrau schluckte und wischte sich eine Träne aus dem Gesicht.

 

„Und weißt du, was noch schöner ist? Du musst nicht erst einzigartig werden, denn du bist es schon immer gewesen. Du unterscheidest dich von allen anderen und dein wunderschöner Fleck auf der Wange macht dich noch einzigartiger. Erkennst du jetzt deine Schönheit?“

 

Die kleine Meerjungfrau nickte und schmiegte sich an ihre Mutter.

 

„Ich hab dich lieb“, sagte sie.

 

Ab dem Tag wusste die kleine Meerjungfrau, dass sie ein Unikat war. Und sie hörte auf, sich Gedanken darüber zu machen, anders zu sein. Weil es ohnehin so war.“

 

„Das war eine schöne Geschichte“, sagt Ida.

„Unser Schneemann ist auch ein Unikat“, meint Tom.

„Das stimmt, so wie wir", erwidert Oma.

 

Die drei schauen aus dem Fenster. Draußen liegt jetzt noch mehr Schnee und der Schneemann hat auf seiner roten Weihnachtsmütze jetzt eine weitere Mütze bekommen - aus Schnee!

 

 

Copyright © 2019 Christina Vikoler