Der Garten der Feen

 

In einem großen Park mitten in der Stadt liegt, versteckt hinter alten Kastanienbäumen und wuchernden Rosenhecken, der Garten der Feen. Nicht jeder weiß, dass es ihn gibt und wo er genau liegt, doch wenn du ihn einmal gefunden hast, kannst dich dich seinem Zauber fast unmöglich entziehen.

 

Im Garten der Feen gibt es ein Meer von duftenden Rosensträuchern aller Art, Beete mit blühendem Lavendel und mittendrin einen Springbrunnen aus hellem Marmor. Daraus sprudelt im immergleichen Rhythmus klarstes Wasser hervor und wer durstig ist, kann sich daran erfrischen.

 

Und dann gibt es da noch abertausende Feen, die den ganzen Tag viel Blödsinn im Kopf haben und allerhand Schabernack treiben.

 

Nein, so ganz stimmt das auch wieder nicht. Denn, wie du vielleicht weißt, treiben die Feen zwar gerne Unfug, aber die meiste Zeit sind sie damit beschäftigt, ihren Garten in Ordnung zu halten und dafür zu sorgen, dass es den Pflanzen, Tieren und anderen Lebewesen gut geht.

 

Und für gewöhnlich ist das auch so. Betrittst du den Garten der Feen, so kann es sein, dass du dir gleich ein wenig anders vorkommst. Vielleicht spürst du plötzlich mehr Freude in deinem Herzen oder du fängst an zu singen, weil du richtig glücklich bist. Es kann durchaus auch sein, dass du plötzlich Luftsprünge machst oder einen Freudentanz aufführst. Einfach so. Im Garten der Feen ist nämlich alles möglich.

 

Und jetzt verrate ich dir ein kleines Geheimnis, warum der Garten der Feen so besonders ist. Jeder, der das Grundstück betritt, wird von den Feen in herrlich glitzernden Feenstaub eingehüllt und mit Blütenelixier beträufelt. Ob er will oder nicht. Denn die Feen möchten, dass sich in ihrem Garten nur glückliche Wesen aufhalten. Vor allem Menschen, die lustig sind und Spaß am Leben haben. Ein Griesgram wird dort gar nicht gerne gesehen. Aber das behältst du vielleicht besser für dich.

 

Kannst du dir vorstellen, was der Garten der Feen für ein magischer Ort ist? Wenn du es nicht glauben kannst, dass es tatsächlich so ist, dann überzeuge dich selbst. Zuerst musst du den Garten der Feen jedoch finden. Aber das ist wiederum eine andere Geschichte.

 

Nun will ich dir erzählen, was im Garten der Feen vor einiger Zeit geschah. Und die Geschichte ist wirklich wahr, denn ich habe alles mit eigenen Augen gesehen.

 

Eines Tages kam ein Mädchen in den wundervollen Garten der Feen. Das Mädchen hieß Clara und war mit ihrer Mutter und ihrem Hund im Park spazieren und wie es der Zufall so wollte, gelangten sie in den Garten der Feen.

 

Clara war ziemlich wütend, weil sie von ihrer Mutter kein Eis bekam. Deshalb stampfte sie heftig mit ihren Füßen und trampelte den blühenden Lavendel nieder. Sie zerstörte die Blütenpracht einfach so.

Nachdem sie sich im Lavendelbeet ausgetobt hatte, fing sie an mit einem Stock die Rosensträucher zu zerschlagen, sodass die frischen Blütenblätter nur so auf die Erde fielen und sich dort verstreuten.

 

Die Feen erschraken sehr und brachten sich hinter den Kastanienbäumen in Sicherheit. Von dort aus beobachteten sie eine ganze Weile das Treiben des wütenden Kindes. Sie waren sehr traurig darüber, dass einige der wunderschönen Rosenpflanzen, die sie so lange gehegt und gepflegt hatten, nun so kümmerlich auf der Erde herumlagen.

 

Die Feen hofften, dass irgend jemand das Treiben des wütenden Kindes stoppen würde, aber es war bereits zu spät. Der Gärtner, der sich normalerweise um den Park kümmerte, hatte gerade etwas anderes zu tun und die Mutter konnte dem Kind kaum Einhalt gebieten. Und so zerstörte Clara die schönsten Rosensträucher und den herrlichen Lavendel, der gerade in seiner vollsten Blüte stand.

 

Die Feen waren völlig hilflos, denn für Feenstaub und Blütenelixier war es jetzt bereits zu spät.

 

Als das Kind, sein Hund und die Mutter den Garten verlassen hatten, kamen die Feen aus ihrem Versteck hervor und mussten sich ansehen, was Clara angerichtet hatte. Oh, wie waren die Feen traurig! Innerhalb kürzester Zeit hatte das wütende Kind einen Teil ihres wunderschönen Gartens zerstört.

 

Nun befahl die Feenkönigin, dass alles schnellstmöglich wieder in Ordnung gebracht werden musste und die Feen machten sich eilig daran, den zerstörten Garten aufzuräumen. Einige der Feen hatten dem Gärtner eingeflüstert, nach dem Rechten zu sehen und so musste auch er den traurigen Anblick, den der Garten bot, ertragen.

 

Da der Gärtner kein Freund großer Gefühle war, machte er sich gleich an die Arbeit. Er holte seine Schubkarre und eine Harke und begann, alles wieder in Ordnung zu bringen. Er sammelte die am Boden herumliegenden Blütenblätter ein und schnitt die umgeknickten Pflanzen zurecht. Dann holte er aus seinem Schuppen ein paar neue Stecklinge und pflanzte sie in die Erde. Zuletzt nahm er seine Harke in die Hand, lockerte den Boden und machte alles glatt. Innerhalb kürzester Zeit hatte es der Gärtner geschafft, die schlimmsten Schäden zu beseitigen und den Garten so gut es ging wieder in Ordnung zu bringen.

 

Als Dank hüllten die Feen den Gärtner in eine gehörige Portion Feenstaub ein und holten für ihn ihr kostbarstes Rosenblütenelixier hervor. Von alledem kriegte der Gärtner nicht das Geringste mit, aber als er nach getaner Arbeit seine Geräte in den Schuppen stellte, fühlte er sich so erfrischt, als wäre er gerade aus dem Urlaub gekommen. Und ein bisschen verwunderte ihn das schon.

 

Am nächsten Tag machten sich die Feen gleich nach Sonnenaufgang an die Arbeit. Sie sammelten frisches Blütenelixier und verstreuten nahezu ihren gesamten Vorrat an Feenstaub über den Garten, damit sich  Regenwürmer, Bienen und Schmetterlinge wieder darin wohlfühlten.

 

Die Feenkönigin meinte, dass sie es nicht mehr zulassen dürften, dass jemand ihren wunderschönen Garten so zerstörte.

 

Doch am selben Nachmittag kam Clara mit ihrer Mutter und dem Hund wieder in den Garten. Als die Feen sie von Weitem kommen sahen, überlegten sie panisch, was am besten zu tun sei. Schnell dachten sie sich ein paar Lösungen aus, doch sie fanden keine wirklich überzeugend. Und so beschlossen sie, das zu tun, was sie immer taten, wenn Menschen ihren Garten betraten.

 

Kaum hatte sich das Kind dem Garten genähert, kamen auch schon aberhunderte Feen angetanzt und hüllten Clara in den dichtesten und glitzerndsten Feenstaub ein, den sie zur Verfügung hatten. Sie bemühten sich, diesmal ganz besonders verschwenderisch mit dem magischen Staub umzugehen. Denn sie wollten mit aller Kraft verhindern, dass sich Claras Zornesausbruch wiederholte.

 

Doch Clara war auch an diesem Nachmittag wütend und der ganze Feenstaub nützte nichts, um ihre Gefühle zu beruhigen. Im Gegenteil. Sobald sie im Garten der Feen war, trampelte sie wieder in den Beeten herum und schlug mit einem Stock auf die blühenden Rosenpflanzen ein.

Die Feen wussten nicht, was sie tun sollten. Denn eigentlich hätte die dicke Wolke Feenstaub dafür sorgen sollen, dass Clara glücklich ist. Aber aus irgendeinem unerklärlichen Grund hatte der Feenstaub versagt und nun war wieder der halbe Garten zerstört.

 

Schnell wurde der Gärtner herbeigerufen. Er schüttelte nur noch den Kopf über soviel Boshaftigkeit und obwohl er tief traurig war über den Zustand des einst so wundervollen Gartens, machte er sich gleich an die Arbeit.

 

Auch die Feen gingen gleich ans Werk und versuchten, die größten Schäden wieder in Ordnung zu bringen. Sie waren voller Trauer und Verzweiflung, weil sie es nicht verhindert hatten, dass ihr Garten erneut zerstört wurde.

 

Noch am selben Abend berief die Königin eine Versammlung ein.

 

„Wie ihr alle wisst", sprach sie, "ist unser wunderschöner Garten an zwei aufeinanderfolgenden Tagen zerstört worden, was mich sehr betrübt. Eine wundervolle Menschenseele hat uns geholfen, das Schlimmste zu beseitigen, aber die Folgen der Zerstörungswut dieses Kindes sind unübersehbar. Wir dürfen es nicht zulassen, dass jemals wieder etwas ähnlich Furchtbares passiert. Denn sollte dies geschehen, müssten wir diesen Garten verlassen."

 

Die Feen waren aufgewühlt und traurig zugleich, denn sie liebten ihren Garten sehr. Sie wussten aber auch nicht, wie sie besser auf ihn aufpassen sollten.

 

Als sich die Versammlung langsam auflöste, trat eine kleine Fee hervor und sprach: "Königin, ich bin noch sehr jung, doch ich habe vielleicht eine Idee, wie wir das Kind besänftigen könnten. Lasst mich heute Nacht einen kleinen Ausflug ins Reich der Menschen machen. Und morgen werdet ihr sehen, ob meine Idee gefruchtet hat. Einen besseren Vorschlag habe ich auch nicht, deshalb lasst es mich versuchen."

 

Erstaunt sah die Königin die kleine Fee an. Sie wollte zwar nicht, dass sich Feen außerhalb ihres Reiches aufhielten, doch diesmal handelte es sich um einen Notfall. Deshalb war sie einverstanden und wünschte der kleinen Fee, die sie sehr mutig fand, für ihren Ausflug alles Gute.

 

Am nächsten Morgen regnete es in Strömen. Die Feen waren erleichtert und machten es sich in den Kastanienbäumen bequem. Bei so einem Wetter war ihr Garten sicher und Clara würde bestimmt nicht auftauchen.

 

Doch im Laufe des Tages ließ der Regen nach und es klarte langsam auf. Der Garten begann zu trocknen und als die ersten Sonnenstrahlen durch die Bäume schienen, konnte man förmlich sehen, wie die jungen Triebe aus den Rosensträuchern und dem Lavendel hervorsprossen. Der Garten wurde in ein wunderbar weiches Licht getaucht und beinahe sah man ihm die Schäden der letzten Tage nicht mehr an.

 

Wie herrlich unser Garten doch ist, dachten sich die Feen. Sie freuten sich darüber, wie schnell die Natur sich selbst heilte, ohne dass sie etwas dazu beitragen mussten.

 

Doch während sich sie Feen über ihren Garten freuten, sahen sie, wie sich ein Mädchen und seine Mutter dem Garten näherten. Clara!

Die Feen erschraken so sehr, dass sie allesamt fast von den Kastanienbäumen fielen. So schnell es ging taten sie sich in kleinen Gruppen zusammen und hielten ihre Beutel mit Feenstaub und Blütenelixier bereit.

 

Doch Clara war heute anders. Sie war weder wütend noch zornig noch boshaft. Sie lächelte! Wie ein artiges Kind hielt sie die Hand ihrer Mutter und spazierte ruhig in den Garten. Irgend etwas war mit ihr geschehen.

 

"Dann wollen wir mal sehen, ob wir deine neue Freundin hier finden, Clara", hörten die Feen die Mutter sagen.

 

Die beiden spazierten durch den Garten und schauten sich jeden Rosentrauch und jede Lavendelpflanze ganz genau an. Mit ihren kleinen Fingern berührte Clara die Blüten und flüsterte ihnen zu: "Es tut mir leid, es tut mir leid."

 

Dann legte sie ihre Arme um den Stamm eines Kastanienbaumes und sagte: "Bitte entschuldige, dass ich den Garten kaputt gemacht habe. Ich mache es wieder gut. Die kleine Fee hat mir gesagt, dass ich das alles wieder gut machen kann. Bitte hilf mir, die kleine Fee zu finden." Da fing Clara an bitterlich zu weinen. Tränen flossen über ihre Wangen und ihre Mutter musste sie in den Arm nehmen, um sie zu beruhigen.

 

Da sprang die kleine Fee plötzlich von einem der Kastanienbäume und setzte sich vor Clara auf einen Strauch: "Erinnerst du dich an mich?"

 

Clara nickte.

 

"Als ich dich in deinen Träumen besuchte, sagte ich dir, dass du alles wieder gutmachen kannst. Dass man Fehler wieder bereinigen kann, wenn du das wirklich willst. Weißt du, wir Feen drücken manchmal auch beide Augen zu und verzeihen dir gern. Aber weißt du auch noch, was ich dir über die Natur sagte? Dass Natur lebendig ist, so lebendig wie du. Und dass du gut auf sie aufpassen sollst. Uns Feen findest du nämlich hauptsächlich in der Natur: in fast jedem Baum, bei jeder Pflanze, in jedem Strauch. Deshalb sei ab jetzt ganz achtsam und gehe gut mit allen Lebewesen um."

 

Clara schluckte.

 

"Und weißt du, wie du jetzt alles wieder gut machen kannst? Du kannst es, indem du wieder lachst und glücklich bist. Dann können wir uns nämlich auch ganz viel Feenstaub sparen..." Die kleine Fee zwinkerte und sprang Clara auf die Schulter. Schnell gab sie ihr einen Kuss auf die Wange und verstreute ein wenig Blütenelixier über sie. Sicher ist sicher, dachte die kleine Fee. 

 

Claras Augen leuchteten. Erleichtert gab sie ihrer Mutter die Hand und machte ein paar Freudensprünge. Nie wieder würde sie der Natur und den Feen so etwas antun!

 

Am nächsten Tag erzählte Clara in der Schule von ihrer neuen Freundin, der keinen Fee, der sie zuerst in ihren Träumen, dann in einem wundersamen Garten begegnet war.

 

Seit diesem Tag geschah es nie wieder, dass jemand dem Garten der Feen etwas zuleide tat.

Vielleicht war es, weil Clara allen Kindern von ihnen und der Natur erzählte. Vielleicht, weil die Feen gelernt hatten, wie einfach es war, mit den Menschen Freundschaft zu schließen.

 

Und so mag es sein, dass auch du schon einmal der einen oder anderen Fee begegnet bist. Im wundersamen Garten der Feen oder an einem anderen magischen Ort.

 

 

Copyright © 2018 Christina Vikoler