Das Tal der sieben Quellen

 

Als ich noch ein Kind war und wir auf unserem Bauernhof lebten, hörte ich zum ersten Mal vom Tal der sieben Quellen. Es war Mitte November, ein kalter Wind fegte ums Haus und meine Großmutter schenkte sich am Nachmittag ein Gläschen Weinbrand ein. Wir hatten es uns in der Küche gemütlich gemacht, im großen Holzherd knisterte das Feuer.

„Hast du schon einmal von den sieben Quellen gehört?“ fragte sie.

Ich schüttelte den Kopf.

Meine Großmutter war eine belesene Frau und konnte wunderbare Geschichten erzählen. Viele kannte ich schon. Aber nein, von den sieben Quellen hatte ich noch nie gehört.

„Die sieben Quellen“, sagte sie fast andächtig, „sind etwas ganz Besonderes und davon werde ich dir jetzt erzählen.“

Ich stützte meinen Kopf auf die Hände und schaute Großmutter erwartungsvoll an.

 

„Kennst du den Weg, der hinter dem Haus über die große Wiese führt? Wenn du ihn entlang gehst, kommst du zu den drei Birken, die an der Lichtung stehen. Durchquerst du den dichten Fichtenwald, gelangst du zu dem bemoosten Felsbrocken. Gehst du an diesem vorbei und nimmst den Weg geradeaus, kannst du nach einer Weile ein herrliches Tal überblicken. Das ist das Tal der sieben Quellen. Es ist von einem so satten Grün, wie du es vorher noch nie gesehen hast. Einer Farbe, die dir so gefallen wird, dass du den Wunsch hast, dich nie wieder von diesem herrlichen Anblick zu lösen.“

„Großmutter“, fragte ich, „was ist, wenn es einmal schneit? Wird das Tal dann nicht weiß?"

„Das ist eine gute Frage“, antwortete sie „aber weißt du, im Tal der sieben Quellen ist alles ein wenig anders als anderswo auf der Welt. Wenn es bei uns etwa stürmt und schneit, bleibt es im Tal warm und grün. Und so würden während der Wintermonate wohl viele Menschen zu den sieben Quellen übersiedeln, wenn sie den Weg wüssten. Der Weg aber ist nur wenigen Menschen bekannt und er kann nur von jenen Menschen begangen werden, die ein offenes Herz haben.

 

Vor etlichen Jahren, so erzählte man mir, fand ein junger Mann diesen Weg. Er war der Sohn des Dorfschneiders, dessen Verlobte zwei Wochen zuvor mit einem anderen Mann durchgebrannt war. Dem Schneidersohn hatte dies das Herz gebrochen und er war voller Wehmut und Trauer.

Er war so traurig, dass er seine ganze Hoffnung in die sieben Quellen setzte, von denen er gehört hatte. Warum das so war, wusste er nicht genau. Er wusste nur, dass er den Weg ins Tal finden musste. Koste es, was es wolle. Und so kniete er sich jeden Abend hin und betete.

 

Einen Tag nach Weihnachten geschah das Wunder. Der junge Schneidersohn wurde von einer Stimme, die er zu hören glaubte, zuerst zu den drei Birken, dann zum bemoosten Felsbrocken und später zu der Stelle geführt, von der aus man das Tal der sieben Quellen überblicken konnte.

Der junge Mann war überwältigt, denn noch nie hatte er etwas Schöneres gesehen. Die Farben des Tales verzauberten ihn so sehr, dass er für einen Augenblick sogar seinen Kummer vergaß. Verzückt von so viel Schönheit, rannte er, so schnell ihn seine Beine tragen konnten, hinab ins Tal.

Dort angekommen, fand er hinter zwei groß gewachsenen Erlenbäumen eine Quelle. Er formte seine Hände zu einer Schale und beugte sich hinab, um zu trinken. Doch als er seinen Mund ansetzte, hörte er hinter sich eine Stimme.

 

„Weißt du denn, was du hier tust?“

 

Erschrocken drehte sich der junge Mann um und hielt nach allen Richtungen Ausschau. Das Tal war leer. Vielleicht hatte er sich ja geirrt? Geschwind bückte er sich und hielt seine Hände in das frische Wasser. Doch als er erneut zum Trinken ansetzte, hörte er wieder diese Stimme.

„Dir ist wohl nicht bewusst, was geschieht, wenn du von dieser Quelle trinkst?“

Wieder schaute sich der Schneidersohn um, aber vergeblich. Er war mutterseelenallein. Langsam wurde ihm unheimlich zumute. Es wäre wohl das beste, wenn er seinen Durst löschte und dann schnell wieder von dem Ort verschwand. Doch bevor er trank, fand er neben der Quelle ein kleines Schild, auf dem stand:

 

Quelle der Erkenntnis.

 

Noch bevor er darüber nachdenken konnte, was das bedeutete, nahm er einen großen Schluck Wasser.

 

„Und was geschah weiter?“ fragte ich neugierig.

„Nun“, sagte meine Großmutter „der junge Schneidersohn schaute, dass er so schnell wie möglich aus dem Tal herauskam. In Windeseile gelangte er zum bemoosten Felsbrocken, rannte durch den Wald, kam zu den drei Birken und schließlich fand er wieder in sein Elternhaus zurück, als es schon dunkel wurde.

 

Doch von dem Moment an, als er von der Quelle getrunken hatte, war nichts mehr so wie es war."

„Was passierte?“, wollte ich wissen.

„Also...“, sagte sie, stand auf, öffnete die kleine Eisentür unseres Holzherdes und schob zwei Holzscheite ins Feuer. Die Funken stoben aus dem Herd und das Gesicht meiner Großmutter wurde in ein dunkles Gold getaucht.

 

„Als der Schneidersohn an dem Abend ins Dorf zurück kam, fing er plötzlich an, anders zu denken und mit der Zeit veränderte sich auch sein Verhalten. Er dachte von früh bis spät über sich selbst nach, wer er war, wie er sich verhielt und wie er mit anderen Menschen umging. Er dachte an seine Verlobte und wie sehr sie ihn doch verehrt hatte. Dann erinnerte er sich, dass er ihr nie gesagt hatte, wie sehr er sie liebte. Und das hatte schließlich dazu geführt, dass sie ihn verließ. Es war seine Schuld, denn er konnte ihr nicht wirklich zeigen, was er fühlte und wer er wirklich war. Und das war neben all den anderen schlimmen Dingen das Allerschlimmste.

 

Der Schneidersohn war nunmehr tagein tagaus mit seinen Gedanken beschäftigt und anstatt abends mit seinen Freunden ins Wirtshaus zu gehen, blieb er in seinem Zimmer. Er war traurig, weil er sah, dass er viele Fehler gemacht hatte und dass er ein schlechter Mensch war. Gleichzeitig aber war er wütend auf sich selbst, weil der von der Quelle getrunken hatte und er seitdem sehr, sehr sonderbar war. Irgendwann aber glaubte er, dass die Gedanken aufhören würden, wenn er ins Tal zurück ging und von der zweiten Quelle trank.“

„Und so kam es, dass er sich eines Nachmittags wieder auf den Weg machte, der ihn über die Wiese zu den drei Birken führte...“

„dann durch den Wald hindurch zu dem bemoosten Felsen...“ beendete ich den Satz.

Meine Großmutter lächelte mich an und strich mir sanft über den Kopf.

 

„Als er im Tal der sieben Quellen ankam, war der junge Mann völlig erschöpft. Er hatte ganz vergessen, wie lang der Weg doch war. Der Schneidersohn schaute besorgt in den Himmel. Es war immer noch Winter und langsam begann es zu dämmern. Doch bevor es völlig dunkel wurde, musste er die zweite Quelle gefunden haben. Er beeilte sich und untersuchte das Dickicht, die bemoosten Flächen, das wilde Gestrüpp.

Schließlich fand er eine Quelle.

Der Schneidersohn legte sich auf den Bauch und trank gierig. Dann sah er das kleine Schild, auf dem stand:

 

Quelle der Klarheit.

 

„Du hast keine Ahnung, wohin das noch führen wird“, hörte er plötzlich eine Stimme.

Schon wieder! Diesmal wusste er, dass er sich das nicht eingebildet hatte.

Der Schneidersohn drehte sich um und versuchte herauszufinden, ob da jemand war. Doch so sehr er sich auch umsah, er war der einzig Mensch im Tal.

Wieder bekam er ein mulmiges Gefühl. Er musste sich beeilen, denn er wollte noch vor Anbruch der Dunkelheit den Rückweg anzutreten. Er trank er noch einmal hastig von der Quelle und machte sich auf den Weg zurück ins Dorf.

 

Sein Fußmarsch war beschwerlich und er musste aufpassen, dass er sich nicht in der Dunkelheit verlief. Kurz vor Mitternacht kam er in seinem Elternhaus an und fiel erschöpft ins Bett.

Er schlief bis zum nächsten Morgen und als er kurz aufwachte, weil das Licht durch seine Vorhänge schien, schloss er wieder die Augen und schlief weiter. Er schlief bis zum späten Abend, öffnete wieder kurz die Augen und schlief dann weiter bis zum nächsten Tag.

 

Es war ein Montag und er musste in die Schneiderwerkstatt, wo er eine Lehre machte. Doch als er in der Werkstatt ankam und sich an die Arbeit machte (er war gerade dabei ein Schnittmuster auf ein Stück Stoff zu zeichnen) fiel es ihm plötzlich wie Schuppen von den Augen. Mit einem Mal fand er seine Arbeit bedeutungslos. Er konnte es nicht glauben, dass er es war, der hier bei seinem Vater in der Werkstatt arbeitete, dass er eine Tätigkeit verrichtete, die ihm keine Freude bereitete. Er erkannte sich selbst nicht wieder.

Verloren schaute er sich in der Werkstatt um. Doch dort hatte sich nichts verändert: sein lieber Vater war gerade mit einem Kunden beschäftigt, dem er einen fertig geschneiderten Anzug übergab und der Geselle machte sich daran, einen Rocksaum einzufassen.

Alles war wie immer, die Geräusche, das Licht, die Stoffe, die Farben. Nur er hatte sich verändert.

 

In den nächsten Tagen wurde das Gefühl, dass er nicht mehr der richtige Mensch in seinem eigenen Leben war, immer stärker. Seine Freunde lachten ihn aus, weil er nicht mehr mit ihnen ausging. Stattdessen zündete er sich abends in seinem Zimmer eine Kerze an oder machte einsame Spaziergänge durch die kalte Nacht.

So erging es dem jungen Schneidersohn über mehrere Wochen und schließlich erkannte er, dass er etwas ändern musste."

 

„Der arme Schneidersohn“, flüsterte ich traurig „vielleicht hätte er nicht von der zweiten Quelle trinken sollen..."

„Ja“, sagte Großmutter, „die Stimme hatte ihn gewarnt, aber er hatte nicht hören wollen.“

Meine Großmutter stand vom Küchentisch auf, holte eine rote Kerze aus der Schublade und zündete sie an. Draußen wurde es langsam dunkel und in unserer Küche breitete sich der goldene Schein der Kerze aus.

„Bitte erzähl weiter“, drängte ich. Ich hatte Mitleid mit dem Schneidersohn und ich wünschte mir, dass es ihm bald besser ging.

Meine Großmutter schaute noch einmal nach dem Feuer im Herd und als sie sah, dass die Holzscheite gut brannten, setzte sie sich wieder an den Tisch.

 

„Nun, der junge Schneidersohn gab sich selbst die Schuld, dass er von den Quellen getrunken hatte. Denn seither fühlte er sich nicht mehr wohl in seiner Haut. Doch eines Morgens hörte er von der Bäckersfrau, dass eine Verwandte einer Verwandten im Tal gewesen sei und von den Quellen getrunken habe. Sie war unheilbar krank gewesen und die Quellen hatten sie wieder komplett gesund gemacht. Nach jenem Tag schöpfte der Schneidersohn wieder Mut.

 

Und so machte er sich am nächsten Morgen wieder auf den Weg über die Wiese zu den drei Birken, durch den Wald und so weiter.

Im Tal der sieben Quellen angelangt, fand er die dritte Quelle. Doch bevor er trank, las er aufmerksam, was auf dem Schild stand:

 

Quelle der Vision.

 

Was das bedeutete, wusste er nicht. Aber das spielte auch keine Rolle, denn er wollte so schnell wie möglich von seinem Kummer genesen. Zügig trank er ein paar Schlucke Quellwasser und hörte sich um. Im Tal herrschte absolute Ruhe. Aber auch seine Gedanken wurden plötzlich still und in seinem Herzen spürte er tiefen Frieden. Noch nie hatte er so etwas Schönes gefühlt.

 

Überrascht und beglückt machte er sich auf den Heimweg.

 

Am nächsten Morgen wachte der Schneidersohn sehr früh auf. In der Nacht hatte er schwere Träume gehabt und er brauchte ein paar Minuten, bis er sich zurechtfand. Doch als er aus dem Bett stieg, geschah etwas Merkwürdiges. Ihm wurde klar, dass er sein Leben, so wie es jetzt war, zutiefst verabscheute. Es sogar hasste. Vor allem seine Arbeit, die er nur tat, weil es sein Vater erwartete. Alle seine Vorfahren waren Schneider gewesen und so hatte er sich nichts dabei gedacht, als auch er diesen Beruf anstrebte.

 

Betrübt blickte der Schneidersohn aus dem Fenster. Da sah er vor sich plötzlich einen Film. Es war, als würde er auf eine unsichtbare Leinwand blicken. Und in diesem Film spielte er selbst mit. Was er sah, war eine Bühne, auf der er ein Theaterstück aufführte und es war unschwer zu erkennen, dass er dies mit Leidenschaft tat. Das Publikum applaudierte, als das Stück zu Ende war und sich die Schauspieler verneigten.

Damit war aber noch nicht genug, denn nun konnte der Schneidersohn einen weiteren Film sehen: Er sah, wie er als Schauspieler um die Welt reiste und dass Millonen Menschen seine Theaterstücke und Filme sahen.

Der Schneidersohn konnte es kaum glauben, dennoch fühlte er es deutlich: So ein Leben, wie er es gerade gesehen hatte, wollte er. Er war kein Schneider. Nein, er wollte Schauspieler sein und die Welt bereisen.

 

„Das will ich auch“, sagte ich.

„Oh ja, das kannst du bestimmt. Aber vergiss nicht, dass du vorher in das Tal der sieben Quellen musst...“ erwiderte Großmutter und lächelte mich schelmisch an.

Es war schon spät geworden und Großmutter wollte mir die Geschichte am nächsten Tag weitererzählen.

In der Nacht träumte ich von den sieben Quellen und dem Schneidersohn, der ein Schauspieler sein wollte.

 

Tags darauf schneite es. Es war der erste Schnee in diesem Winter und alle waren schon am frühen Morgen damit beschäftigt, das Haus und die Wege freizuräumen. Ich brannte schon den ganzen Vormittag darauf, die Geschichte weiter zu hören, aber Großmutter hatte viel zu tun und so erfuhr ich erst am frühen Abend, wie das Abenteuer weiterging.

 

„Der Schneidersohn war so voller Euphorie und Freude, dass er fast darüber vergaß, seine Arbeit in der Schneiderwerkstatt zu verrichten. Es gab viel zu tun, weil im Dorf eine Hochzeit anstand und viele neue Kleider genäht werden mussten. Doch während er Schnittmuster nachzeichnete, Stoffe zuschnitt und Säume

umnähte, ging ihm das, was er gesehen und zutiefst berührt hatte, nicht mehr aus dem Kopf. Während er seine Arbeit erledigte, dachte er darüber nach, wie er am besten eine Lösung finden könnte. Ihm fiel aber nichts dazu ein. Und doch wusste er insgeheim, dass er einen schweren Weg vor sich haben und dass er ein paar Menschen enttäuschen würde. Er wusste aber auch, dass er bald wieder ins Tal der sieben Quellen zurückkehren musste, um Hilfe zu erhalten.

 

Doch bis es soweit war, gingen fast drei Monate ins Land. In der Schneiderwerkstatt war Hochsaison und so konnte es sich der Schneidersohn nicht erlauben, auch nur einen Nachmittag freizunehmen. Es wurde nahezu rund um die Uhr gearbeitet und selbst der Schneidermeister blieb oft bis spät in die Nacht in der Werkstatt.

 

Als der junge Schneidersohn schließlich ins Tal wanderte, um die vierte Quelle aufzusuchen, war bereits Sommer. Der Weg war sehr verwachsen, weil es im Frühjahr abwechselnd viel Sonne, aber auch viel Regen gegeben hatte. Doch der junge Mann ließ sich davon nicht beirren und kam an einem strahlenden, warmen Tag im Tal der sieben Quellen an. Seit seinem letzten Besuch hatte sich dort nichts verändert.

Sogleich fand er die vierte Quelle und trank. Dann sah er auf und las das Schild: 

 

Quelle des Loslassens.

 

Mit einem Mal durchfuhr den Schneidersohn eine Welle der Trauer. Ihm wurde bang ums Herz und er fühlte sich müde. Er spürte, dass ihm eine schwere Zeit bevorstehen würde.

Als er sich unter eine Weide legte, schlief er fast augenblicklich ein.

 

Er träumte, dass er sein Dorf verließ, um in der Stadt das Schauspielhandwerk zu erlernen. Der Abschied von seinen Eltern fiel ihm schwer, denn sie waren nicht mehr die jüngsten und so wusste er nicht, ob er sie jemals wiedersehen würde. Er war unendlich traurig und die Tränen liefen ihm nur so über die Wangen. Auch Vater und Mutter waren tief betrübt und er glaubte, eine Spur Enttäuschung in ihren Gesichtern zu erkennen. Enttäuschung darüber, dass der Sohn die Schneiderwerkstatt nicht übernehmen und somit die jahrhundertealte Tradition aufhören würde.

Doch da tauchte plötzlich und wie aus dem Nichts eine wunderschöne Frau auf, die er im Dorf noch nie gesehen hatte.

„Erkennst du mich denn nicht?“ fragte sie.

Er schüttelte den Kopf.

„Erinnerst du dich an die Stimme im Tal der sieben Quellen? Ich hatte dich gewart, das Wasser zu trinken, denn ich wusste, dass du es schwer haben würdest. Doch du hast Mut bewiesen und jetzt bin ich hier, um dich zu begleiten. Ab jetzt werde ich dich mit meiner Feenkraft unterstützen."

Noch nie hatte der Schneidersohn eine schönere Frau gesehen und er hatte das tiefe Bedürfnis, sie zu berühren. Doch als er seine Hand nach der Fee ausstreckte, war sie verschwunden.

 

Als der Schneidersohn aus seinem Schlaf erwachte, rieb er sich die Augen, denn er war sich nicht ganz sicher, ob er das nur geträumt oder tatsächlich erlebt hatte. Er stand auf und sah sich nach der schönen Fee um. Doch außer ihm war niemand da und so dachte er, dass das wohl alles nur eine schöne Illusion bleiben würde."

 

„Geht der Schneidersohn von zuhause fort?“, fragte ich still.

„Ja, mein Schatz“, antwortete Großmutter, „das wird er. Aber sei nicht traurig, denn das gehört zum Leben dazu, wenn man sich auf eine Abenteuerreise begibt. Und übrigens wird die Fee gut auf ihn aufpassen."

Erleichtert darüber, dass der Schneidersohn nicht alleine in die Welt hinaus musste, lauschte ich weiter der Geschichte.

 

„Und so geschah das, was der junge Mann in seinem Traum gesehen hatte. Er zog los, um Schauspieler zu werden und die Welt zu entdecken. Zuerst war sein Abschiedsschmerz groß, doch je weiter er sich von seinem Dorf entfernte, desto stärker wurde seine Zuversicht. In der nächstgelegenen Stadt fand er eine Schauspielschule und dort lernte er insgesamt drei Jahre. Er spürte, dass er Talent hatte und dass es ihm gefiel, in andere Rollen zu schlüpfen, doch er hatte keine Ahnung, ob er auch jemals auf einer richtigen Theaterbühne stehen würde. In ihm kamen Zweifel und Ängste auf.

 

Sein Dorf und die Quelle hatte er während der Ausbildung zum großen Teil vergessen. Doch als ihn die Schauspielschule wieder ins Leben entließ, fiel ihm das Tal wieder ein und er dachte sich, dass es an der Zeit wäre, den Weg der Quellen zuende zu gehen.

 

Und so machte er sich eines Tages auf die Suche nach der fünften Quelle.

Der Weg dorthin kam ihm länger und beschwerlicher vor als sonst und er hatte im Laufe der Jahre auch vergessen, wie man ins Tal gelangte. Doch nach einer Weile fand er die drei Birken, den Wald und den bemoosten Felsbrocken.

Im Tal angekommen, fand er die fünfte Quelle.

Das Wasser sprudelte nur so aus der Erde und der Schneidersohn freute sich darauf, das Wasser zu trinken. Doch als er las, was auf dem Schild stand, wurde ihm schwer ums Herz und er zögerte. Dann gab er sich einen Ruck und trank aus der

 

Quelle des Schmerzes.

 

Noch im selben Augenblick überkamen ihn die Zweifel. Was hatte er sich angetan? War es das alles wert? Er hätte die Schneiderwerkstatt seines Vaters übernehmen und ein gutes Leben führen können. Doch er war undankbar gewesen und nun stand er ohne Zukunft da. Außerdem war ihm das Geld ausgegangen, das ihm Vater und Mutter regelmäßig geschickt hatten. In ihm herrschten tiefe Unsicherheit und Zweifel.

 

„Was ist mit der Fee? Sie wollte ihm doch helfen?“ warf ich ein.

„Ja“, sagte Großmutter, „du hast recht. Sie hätte ihm helfen können. Aber weißt du was? Der Schneidersohn war so sehr mit seiner Schauspielerei beschäftigt, dass er die schöne Fee über die Jahre vergessen hatte.“

„Ich werde meine Fee sicher nicht vergessen“, sagte ich bestimmt.

Großmutter schaute aus dem Fenster.

„Jetzt fängt es wieder an zu schneien“, sagte sie „ich mache uns eine Kerze an.“

Als wir beide in den warm flackernden Schein der Kerze schauten, erzählte Großmutter weiter.

 

„Der Schneidersohn erfuhr jetzt am eigenen Leib, was die fünfte Quelle bedeutete. Verwirrt und verzweifelt kehrte er in die Stadt zurück, wo er ein karges Zimmer gemietet hatte. In der Einsamkeit seiner tristen Wohnstätte fing er bitterlich an zu weinen. Er war mutlos und wusste keinen Ausweg mehr.

Jeden Tag hoffte er darauf, dass es ihm bald besser ging, aber er blieb weiter in seiner Dunkelheit gefangen.

 

Der Schmerz hielt genau sieben Tage und sieben Stunden an. Dann waren alle Tränen versiegt und sein Zustand besserte sich. Der Schneidersohn spürte, dass er das Schlimmste überstanden hatte und fühlte Hoffnung in sich aufkeimen.

Mit einem Mal erinnerte er sich an die wunderschöne Fee. Sie hatte ihm doch versprochen, für ihn da zu sein und ihm zu helfen. Wo war sie gewesen? Er verspürte große Sehnsucht nach ihr.

"Wo bist du, schöne Fee?" flüsterte er.

Doch es kam keine Antwort.

Er musste im Tal der sieben Quellen nach ihr suchen, dachte er sich. Und so packte er am nächsten Tag seine Sachen und machte sich auf den Weg.

Bei der sechsten Quelle angekommen, stillte er zuerst seinen Durst und las, was auf dem Schild stand:

 

Quelle des Vertrauens.

 

Er fühlte sich erleichtert. Alles würde gut werden, so hoffte er.

 

„Wirst du dir ab jetzt vertrauen? Und kannst du auch mir vertrauen?“

Der Schneidersohn drehte sich um.

Unter einem Baum, der gerade in vollster Blüte stand, sah er die wunderschöne Fee. Ihm wurde warm ums Herz.

„Ich werde es versuchen“, antwortete der junge Mann.

„Gut“, sagte die Fee. „Dann werde ich dir jetzt den Weg zeigen.“

„Was muss ich tun?“ fragte der Schneidersohn.

„Du sollst lernen, deiner inneren Stimme zu vertrauen. Doch dafür musst du still werden und gut lauschen. Ich bin sicher, du kannst sie dann hören."

„Aber was...“

Der Schneidersohn wollte noch etwas sagen, doch die Fee war bereits verschwunden und er war mutterseelenallein im Tal zurückgeblieben.

 

„Was heißt innere Stimme, Großmutter?“ wollte ich wissen.

„Die innere Stimme ist das, was du hörst, wenn dein Herz zu dir spricht“ sagte Großmutter.

„Und wie geht die Geschichte weiter?“

„Das Leben des Schneidersohnes veränderte sich noch sehr. Mithilfe der Fee gelang es ihm, seine innere Stimme immer mehr zu hören und ihr zu vertrauen. Das war nicht immer leicht, aber er war ein gelehriger Schüler und lernte immer mehr dazu. Und so kam es, dass der Schneidersohn Arbeit in einer noch größeren Stadt bekam. Er sollte in einem Theaterstück mitspielen, in dem er die Rolle eines Lehrers verkörperte. Und er machte seine Arbeit gut. So gut, dass er nach den Aufführungen immer den größten Applaus bekam. Zum ersten Mal durfte er erfahren, dass er für seinen Beruf anerkannt und gewürdigt wurde.

 

Ein Jahr lang blieb er an dem Theater, dann wurde das Stück abgesetzt und er musste sich nach einer neuen Anstellung umsehen. Wieder zweifelte er, ob es richtig war, Schauspieler zu werden. Doch diesmal war es nicht mehr so schlimm. Er hatte ein wenig Geld gespart und kam ganz gut über die Runden. Dennoch stand er wieder da und wusste nicht, wie es weiterging.

 

Eines Nachmittags tauchte die schöne Fee in seinem Zimmer auf.

„Du erinnerst dich sicher, dass es da noch etwas gibt, was du bald erledigen solltest", sagte sie eindringlich, „es ist nun an der Zeit, deine Reise langsam abzuschließen. Du solltest dich aufmachen ins Tal der sieben Quellen, um von der letzten Quelle zu trinken."

 

Der Schneidersohn wollte keine Zeit verlieren. Auch fühlte er, dass jetzt der richtige Moment war, den Kreis zu schließen. Und so packte er seinen Rucksack und machte sich im Morgengrauen auf den Weg.

Im Tal angekommen, machte er sich sogleich auf die Suche nach der Quelle. Er suchte überall, hinter Bäumen, Sträuchern, im Gras. Doch die siebte Quelle war nicht zu finden.

 

Verzweifelt setzte sich der Schneidersohn ins Gras.

Da tauchte die Fee plötzlich neben ihm auf.

"Ich will dir helfen", sagte sie, "du hast jetzt eine lange Reise gemacht, hast von den sechs Quellen getrunken, dich auf die Suche gemacht, Erkenntnisse gewonnen, Erfahrungen gemacht, Ängste durchstanden und Mut bewiesen. All das hast du durchlebt. Jetzt bist du auf der Suche nach der letzten Quelle. Die siebte Quelle aber findest du nicht in der äußeren Welt. Sie ist an einem Ort, wo du jederzeit und überall Zugang hast. Wenn du sie gefunden hast, dann wird sie alles für dich sein. Sie kann dir alles geben, was du brauchst, denn es ist die

 

Quelle der Erfüllung."

 

Die Fee schaute ihn ernst an.

"Und jetzt frage ich dich: Was glaubst du, wo du die siebte Quelle findest?"

 

Der Schneidersohn war enttäuscht. Er hatte gehofft, dass ihm die schöne Fee den Platz zeigt, aber jetzt sollte er ihn selbst finden. Er legte sich ins Gras und dachte nach.

Ihm fiel ein, was er in den letzten Jahren alles erlebt hatte. Wie war er seinen Weg gegangen? Wie hatte er gewusst, welche Abbiegung er nehmen sollte? Woher hat er die Sicherheit genommen, Entscheidungen zu treffen?

Er hatte sehr viele Zweifel gehabt, hatte sich unbändige Sorgen gemacht, hat Höllenqualen durchlitten. Aber irgendwie hatte es immer eine Antwort auf seine Fragen gegeben. Sie waren irgendwoher gekommen.

Da dämmerte es ihm plötzlich.

„Die siebte Quelle ist in mir!"

Der Schneidersohn stand auf und sah die Fee an. Sie lächelte nur und da wusste er, dass es stimmte.

 

In diesem Moment spürte er tiefe Dankbarkeit für alles, was in seinem Leben geschehen war, das Schöne und weniger Schöne. Er spürte, dass alles richtig gewesen war und dass alles einen Sinn hatte. Der Schneidersohn war so dankbar, dass er die Fee umarmen wollte. Doch sie war bereits verschwunden.

 

„Aber was wurde aus dem Schneidersohn?“ Ich wollte nun wissen, wie die Geschichte endgültig ausging.

„Das ist eine gute Frage", sagte Großmutter, "wie du dir vielleicht denken kannst, kam es so, wie er es einst in seinen Träumen gesehen hatte. Nicht sofort, denn der Schneidersohn musste zuerst noch einige Erfahrungen sammeln. Aber irgendwann war er sehr erfolgreich und berühmt. Doch trotz seines Ruhmes blieb er bescheiden, denn er erinnerte sich immer daran, dass er einmal ein Schneidersohn gewesen war, der sich auf eine lange Reise gemacht hatte. Tief in seinem Inneren wusste er, dass alles nur deshalb geschah, weil der die siebte Quelle gefunden hatte und er ihr vertraute."

 

„Wenn ich groß bin, werde ich auch Schauspielerin“ sagte ich.

Meine Großmutter lächelte und ich glaubte in diesem Moment genau zu wissen, dass wohl nicht nur der Schneidersohn eine Quelle in sich hatte, sondern vielleicht auch ich.

 

 

Copyright © 2018 Christina Vikoler