Eine kleine Geschichte vom Vertrauen

 

Es war einmal ein Junge, der hieß Tom.

 

Du wirst dich jetzt sicher fragen, wie alt dieser Tom genau war und was er den ganzen Tag so machte.

Nun, das werde ich dir jetzt alles erzählen.

 

Also, Tom hieß eigentlich Thomas, aber so nannte ihn fast keiner. Außer seiner Mutter, wenn sie besonders streng sein wollte und Tom seine Sachen nicht aufräumte. Wenn seine Mutter ihn Thomas nannte, dann wusste er, dass sie es ernst meinte und dass es jetzt keine Ausreden mehr gab.

 

Tom war acht Jahre alt, oder besser gesagt, acht Jahre, vier Monate und einen Tag. Denn Tom nahm es mit dem Alter sehr genau. Er wollte nämlich schon ein großer Junge sein.

Und das war er ja auch, aber nicht immer. Denn manchmal hatte er ganz schön viel Angst. Nicht, dass große Jungen keine Angst haben dürfen, aber Tom hatte an bestimmten Tagen vor Dingen Angst, vor denen man eigentlich keine Angst haben muss.

 

Jetzt fragst du dich sicher, wovor Tom an diesen bestimmten Tagen wohl Angst hatte.

Nun gut, ich erzähl es dir, aber bitte fang nicht gleich an zu lachen.

 

An diesen bestimmten Tagen hatte Tom panische Angst davor, auf die Toilette zu gehen oder mit seinem Fahrrad enge Kurven zu fahren, er hatte Angst, dass seine Lehrerin mit ihm schimpft, weil er seine Sachen zu langsam in den Schulranzen packte, und er hatte Angst, in der Klasse etwas vorzulesen.

An diesen bestimmten Tagen hatte er einfach vor fast allem Angst und manchmal lachten ihn seine Freunde deswegen auch aus und sagten zu ihm, dass er ein echter Angsthase sei.

Aber Tom konnte die Angst an diesen bestimmten Tagen einfach nicht abstellen, obwohl er es sich eigentlich wünschte.

 

Er sprach mit niemandem darüber, nicht mal seiner Oma erzählte er das mit der Angst. Aber da die Angst nicht immer da war, sondern nur an bestimmten Tagen kam, hoffte er einfach, dass sie irgendwann auch wieder verschwindet. Einfach so.

 

Doch die Angst hörte nicht auf und manchmal kam es Tom vor, als ob diese bestimmten Tage sogar noch mehr wurden.

 

An einem Tag mitten im Frühling fing die Angst schon am Abend vor so einem bestimmten Tag an. Tom sollte am nächsten Tag in der Schule einen selbst geschriebenen Brief an sein Haustier vorlesen und davor hatte er panische Angst. Nicht weil es schwer für ihn war, diesen Brief an seinen Hamster Ewald zu schreiben, sondern weil er Angst hatte, dass jemand über seinen Brief lachen könnte.

Bevor seine Mutter noch einmal zu ihm ins Zimmer schaute, um das Licht zu löschen, überlegte er sich, was er tun könnte, um diese blöde Angst loszuwerden.

Und während er so nachdachte und überlegte, schrie er plötzlich laut: „Hau ab!“.

Er hatte das nicht geplant, sondern es kam einfach so aus ihm herausgeschossen.

 

„Meinst du mich?“ hörte er auf einmal eine Stimme.

 

Tom zuckte zusammen, denn er hätte nicht gedacht, dass die Angst antworten würde. Er hatte schon ein schlechtes Gewissen, weil er so laut gewesen war. Deshalb duckte er sich und zog sich schnell die Bettdecke über den Kopf.

 

„Was ist denn los, mein Schatz? Ich habe dich schreien hören...“, sagte die Stimme jetzt.

Zum Glück war das seine Mutter, die nachsehen wollte, was los war.

Tom schämte sich ein wenig und deswegen erzählte er nichts von der Angst und der Stimme, die er gehört hatte. Aber wahrscheinlich hatte er sich alles nur eingebildet.

 

Seine Mutter drückte ihm einen Gutenachtkuss auf die Wange und strich ihm sanft übers Haar.

„Schlaf jetzt schön“, sagte sie, „morgen ist ein großer Tag und deine Mitschüler werden staunen, wie toll dein Brief ist. Ich bin so stolz auf dich, mein Schatz.“

 

Das hätte Toms Mutter lieber nicht sagen sollen, denn nun hatte Tom wieder so ein komisches Gefühl im Bauch. Das hatte er immer, wenn die Angst kam.

Tom versuchte, schnell an etwas anderes zu denken und schaute hinauf zu den vielen kleinen und mittelgroßen Sternen, die an der Zimmerdecke grün schimmernd leuchteten. Einen Halbmond gab es dort auch.

 

„Hey, du hast nicht geantwortet.“

Tom war plötzlich wieder hellwach.

Außer ihm war niemand im Zimmer. Das dachte er.

 

Durch die angelehnte Tür fiel ein silberner Lichtstrahl und Tom sah, dass dort plötzlich ein Junge stand. Ein fremder Junge mitten in seinem Zimmer!

 

Nun würdest du bestimmt gerne wissen, wer dieser Junge war und wie er so mir nichts dir nichts in Toms Zimmer gekommen war.

 

Also, um genau zu sein war der Junge eigentlich kein Junge mehr, sondern schon ein Teenager. Vielleicht war er so 15 oder 16, mittelgroß und hatte ein rundes, freundliches Gesicht. Seine Haare waren dunkelblond und fielen ihm bis zu den Schultern herab. Zu seinen zerschlissenen Jeans trug er ein weißes T-Shirt mit riesen Blumen-Aufdruck. Zu seinen langen Haaren sah er damit allerdings ein wenig aus wie ein Mädchen und das dachte Tom im ersten Moment auch.

 

Tom starrte den Jungen mit offenem Mund an.

Doch bevor er überhaupt irgendetwas sagen konnte, fing der Junge an zu lachen. Er lachte und lachte und kriegte sich nicht mehr ein vor Lachen.

 

„Du solltest dich sehen“, sagte er, „dein Gesicht sieht aus wie ein großes, dreidimensionales Fragezeichen.“

 

Tom beruhigte sich ein wenig, denn er mochte Menschen, die lachen. Sie waren weniger gefährlich als die anderen, die immer streng guckten. Tom lachte übrigens auch gern, wenn er mit seinen Freunden zusammen war oder einen lustigen Film anschaute. Außerdem wusste er nicht, was dreidimensional hieß. Aber er traute sich nicht, den Jungen das zu fragen.

 

„Also“, sagte der Junge, „du willst bestimmt wissen, was ich hier zu später Stunde noch suche. Ok, ich mache es kurz. Ich will dir helfen, dass das aufhört mit der Angst. Denn ich kann es wirklich nicht mehr mitansehen, dass du vor dem geringsten Kram Schiss hast. Damit muss Schluss sein, denn der Chef möchte, dass du Spass hast am Leben. Ob du willst oder nicht, ich werde dir jetzt nicht mehr von der Seite weichen und wenn du mich loswerden will, geht das nicht so einfach. Nur dass du's weißt. Aber jetzt musst du schlafen, denn es ist schon spät.“

 

Und Schwups war der Junge wieder verschwunden. Tom war sich danach nicht mehr sicher, ob das nicht alles ein Traum gewesen war.

 

Am nächsten Morgen wachte Tom ausgeruht und gut gelaunt auf. Er hatte geträumt, dass ein großer Junge in seinem Zimmer stand und ihm helfen wollte, seine Angst loszuwerden...

 

Dann fiel ihm plötzlich der Brief an Ewald wieder ein. Ihm graute schon davor und Tom kriegte wieder dieses Ziehen im Bauch.

Vor der Schule fütterte er Ewald noch und während er die Käfigtür zumachte, fragte er sich, ob Hamster auch ab und zu Angst haben.

 

Vor Deutsch hatte Tom wieder Bauchschmerzen, aber er versuchte, sich vor den anderen nichts anmerken zu lassen. Frau Schmidt, die Deutschlehrerin, kam in die Klasse und sagte, dass heute einige Schüler ihre Hausaufgaben vorlesen sollten. Sie schaute in die Klasse und fragte mit einem Lächeln:

„Na, wer will der oder die erste sein. Freiwillige und Mutige vor...“

Tom kriegte noch mehr Angst und duckte sich, damit ihn Frau Schmidt nicht sehen konnte.

 

Da zog ihn plötzlich jemand am Arm.

„Hey, Flosse nach oben. Mutige vor, hat sie gesagt. Also nichts wie ran.“

Neben Tom stand der Junge, der gestern in seinem Zimmer war oder von dem er geträumt hatte. So genau wusste er das auch nicht mehr.

 

Aber wie war er in die Klasse gekommen und was würden Frau Schmidt und die anderen sagen? Tom wurde ein wenig rot im Gesicht.

Doch niemand schien den Jungen zu bemerken, denn die Blicke seiner Mitschüler waren alle auf Frau Schmidt gerichtet.

 

„Was willst du hier?“ flüsterte Tom nervös.

„Ich will, dass deine Angst weggeht.“ antwortete der Junge und zeigte Tom, dass er seinen Arm heben sollte.

„Siehst du, es ist ganz leicht. Manchmal musst du einfach mutig sein, wenn du willst, dass deine Angst vergeht. Aber keine Sorge, ich helfe dir dabei, ok?“

 

Tom wusste immer noch nicht, wer dieser Junge, der ein bisschen aussah wie ein Mädchen, war. Aber irgendwie mochte er ihn.

 

„Hey, das ist jetzt deine Chance. Lass sie nicht verstreichen. Du kannst das!“ Der Junge sah Tom mit einem warmen, aber auch schelmischem Lächeln an.

 

Ganz plötzlich fühlte sich Tom stark, er wusste auch nicht warum. Das Ziehen im Bauch war zwar immer noch da, aber er beachtete es nicht mehr.

 

„Ich will der erste sein“ rief Tom laut. Schnell hob er den Arm, damit die Lehrerin nicht merkte, dass er die Reihenfolge durcheinander gebracht hatte. Frau Schmidt achtete ja immer sehr darauf, dass zuerst der Arm gehoben und dann erst gesprochen wurde.

 

„Gut Tom“, sagte sie, „dann komm an die Tafel und lies uns deinen Brief vor.

 

Mit einem Mal bekam Tom Angst vor seiner eigenen Courage. Was hatte er da getan? Als er zögernd aufstand, sah er sich nach dem Jungen um. Er wollte ihm doch helfen!

Der Junge stand hinter ihm und legte ihm eine Hand auf die rechte Schulter. Dann flüsterte er Tom ins Ohr:

„Hey, du schaffst das, ich weiss es. Du wirst alle umhauen mit deinem Brief und wenn nicht, dann kriegen die es mit mir zu tun. Los jetzt, das ist deine Show!“

 

Der Junge gab Tom von hinten einen kleinen Schubs und schon stand er bei Frau Schmidt an der Tafel. Seine Knie zitterten ein wenig und auch das Heft in seinen Händen wackelte. Aber dann dachte er daran, was der Junge ihm gesagt hatte, dass man manchmal einfach mutig sein muss, um die Angst loszuwerden.

 

„Lieber Ewald,...“

Tom begann zu lesen. Er verhaspelte sich am Anfang ein paar Mal und hielt das Schreibheft fest umklammert, damit es nicht so schaukelte. Doch nachdem er ein paar Sätze vorgelesen hatte, lief es ganz gut. Der Junge stand mit gekreuzten Armen ganz hinten am Fenster und nickte Tom ein paar Mal aufmunternd zu.

 

Als Tom fertig war, sagte Frau Schmidt:

„Das war ein wirklich bezaubernder Brief. Vor allem so lebendig geschrieben. Gut gemacht, Tom!“

 

Tom war unglaublich erleichtert und glücklich, dass es so gut geklappt hatte. Seine Mitschüler hatten aufmerksam zugehört und niemand hatte gelacht. Die ganze Angst war also umsonst gewesen.

Nun wollte er sich bei dem eigenartigen Jungen bedanken, denn ohne ihn hätte er das sicher nicht geschafft. Als sich Tom jedoch in der Klasse umsah, war der Junge nicht mehr da.

 

In den Wochen nach diesem Tag gab es nur noch wenige dieser bestimmten Tage. Tom fühlte sich gut und irgendwie kam es ihm vor, als wäre er in kürzester Zeit ein großes Stück gewachsen. Vielleicht stimmte das ja auch.

 

Seiner Mutter hatte er alles von dem Tag erzählt. Was er ihr aber verschwieg, war das mit dem Jungen. Denn Tom war sich auch nicht mehr so sicher, ob es den Jungen, der wie ein Mädchen aussah, wirklich gab. Doch dann vergaß er ihn und dachte nicht mehr über ihn nach.

 

An einem Tag im Sommer, es war kurz vor den großen Ferien, kam die Angst zurück. Tom war mit seinen Freunden Ole, Sven und Konrad im Schwimmbad. Obwohl erst Juni war, war es ziemlich heiß und so verbrachten die Freunde die meiste Zeit im kühlen Wasser - wie fast alle, die an dem Nachmittag im Schwimmbad waren.

 

Irgendwann sagte Konrad: „Wisst ihr was, wir üben jetzt Turmspringen“. Er zeigte zum Drei-Meter-Brett, lachte und schlug ein paar Mal mit der flachen Hand ins Wasser, sodass es laut Platsch, Platsch machte.

 

„Das darf ich nicht. Meine Mama hat gesagt, wir dürfen nur vom Einser springen.“ sagte Ole.

„Ich darf auch nicht“, sagte Sven.

 

Tom sagte gar nichts, denn ihm wurde ein wenig mulmig zumute.

 

„Gut, ihr Feiglinge. Dann stürmen wir halt den Einser. Mir nach“, rief Konrad und zog sich am Beckenrand aus dem Wasser. Die anderen Jungen folgten ihm. Sie stiegen auf das Sprungbrett und einer nach dem anderen sprang mit angezogenen Beinen in die Tiefe. Das Wasser spritzte nur so.

 

Als Tom dran war, hatte er plötzlich panische Angst. Er wollte ins Wasser springen, aber es ging nicht. Das Ziehen im Bauch fing wieder an und er merkte, dass er unmöglich springen konnte. Und das vom Ein-Meter-Brett!

Er sah, wie die anderen im Wasser um sich spritzten und zu ihm hinauf sahen.

„Los Tom, spring!“ rief Konrad.

„Komm schon, runter mit dir!“ schrie Sven.

Doch es ging nicht. Tom hatte zuviel Angst und er schämte sich so sehr dafür, dass er sich am liebsten in Luft aufgelöst hätte. Betreten blickte er nach unten.

 

„Wir springen zusammen, einverstanden?“

Mit einem Mal stand dieser Junge, der wie ein Mädchen aussah, neben ihm auf dem Sprungbrett. Wieder trug er dieses merkwürdige weiße T-Shirt mit dem Blumen-Aufdruck. Außerdem hatte er hellgrüne Sneakers an. Wollte er so ins Wasser springen? Und überhaupt, wie war er auf das Sprungbrett gekommen?

 

„Na was ist, Angsthase. Springst du oder nicht?“ rief Konrad ungeduldig aus dem Wasser.

 

„Ich nehme dich an die Hand, ok?“ sagte der Junge. Tom wurde ein wenig rot. Wenn seine Freunde sahen, dass er für so einen lächerlichen Sprung Hilfe brauchte...

 

Doch dann merkte er, wie der Junge seine Hand nahm und ihm plötzlich ganz warm wurde. Ihm wurde so heiß, dass es ihm den Schweiß auf die Stirn trieb und er nichts lieber tun wollte, als ins Wasser zu springen, um sich abzukühlen.

Gemeinsam machten sie ein paar Schritte bis zum Rand des Sprungbretts und dann sagte der Junge:

„Du bist bereit, oder? Ich zähle bis drei, dann springen wir. Ein, zwei,...“ Und schon landete Tom im Wasserbecken. Es war gar nicht schlimm gewesen. Sven klatsche ihn sogar ab.

 

„Wisst ihr, der Junge...“ wollte Tom sich rechtfertigen.

„Welcher Junge?“ fragte Konrad.

 

Tom war jetzt nicht mehr sicher, ob er sich nicht alles ausgedacht hatte. Er hatte aber die Wärme in seiner Hand deutlich gespürt und dass ihm plötzlich so heiß geworden war. So heiß, dass er unbedingt springen wollte. Und ohne den Jungen würde er immer noch auf dem Sprungbrett stehen. Soviel stand fest!

 

Am selben Abend ging Tom früh schlafen. Sein Vater war wieder einmal da und er hatte keine Lust, sich mit ihm zu unterhalten. Du musst wissen, dass Toms Vater nicht oft zuhause war. Er war Manager in einer internationalen Firma und die meiste Zeit irgendwo in der Weltgeschichte unterwegs. Manchmal waren Tom und seine Mutter traurig deswegen, aber meistens ging es ihnen auch so ganz gut.

 

Tom war an diesem Abend ziemlich müde vom Schwimmbad und von der Hitze. Seine Mutter hatte gerade das Licht ausgemacht, da schlief er auch schon ein.

 

Mitten in der Nacht wachte Tom auf. Es war plötzlich sehr hell im Zimmer und Tom dachte, dass jemand das Licht angemacht hatte. Doch als er zur Deckenlampe blickte, sah er, dass sie aus war.

Jemand stand im Zimmer und dieser jemand strahlte ein helles Licht aus. Als Tom genauer hinsah, stand dort dieser Junge.

 

„Hey, du bist ja wirklich ein Schisser. Angst vor dem Ein-Meter-Brett! Aber mach dir nichts draus, wir haben im letzten Moment ja doch noch die Kurve gekriegt, nicht wahr?“ Der Junge fing an zu lachen.

 

„Wie heißt du eigentlich?“ fragte Tom und gähnte. Er wusste sonst nicht, was er sagen sollte.

 

„Also, der Chef nennt mich Elias, bei meinen Kumpels heiße ich Eli.“ Wieder fing der Junge an zu lachen.

 

„Und was gefällt dir besser?“ wollte Tom wissen.

 

„Wie du willst, kannst mich auch Freund nennen. Jedenfalls muss ich heute ein ernstes Wörtchen mit dir reden. Denn der Chef ist immer noch der Meinung, dass du zu viel Angst hast. Das ist nicht schlimm, sagt er, aber er will, dass du dein Leben genießt und dass es dir so richtig gut geht. Das geht aber nur, wenn du mehr Vertrauen hast und mutiger bist. Deswegen will er, dass du ab jetzt einen Bodyguard hast, den du immer rufen kannst, wenn du etwas brauchst. Und dieser Bodyguard bin ich, ok? Nur dass du's weißt, ich war schon immer da, aber jetzt muss ich einfach noch mehr tun für dich. Hey, jetzt fang bloß nicht an zu heulen. Das ist nicht nur bei dir so, sondern bei allen anderen. Ich kann dir sagen, dass ich niemanden kenne, der keine Angst hat. Aber du musst mir eines versprechen. Du rufst mich, wenn du mich brauchst. Ok, Kleiner?“

 

Der Junge ging die ganze Zeit vor Toms Bett auf und ab und jetzt zwinkerte er ihm sogar zu.

Irgendwie war Tom jetzt erleichtert. Elias hatte gesagt, dass jeder Mensch Angst hat und er dachte schon, dass er der einzige ist.

Komisch, obwohl er den Jungen nicht wirklich kannte, kam es Tom so vor, als ob er jetzt einen neuen Freund hätte. Ihm wurde ganz warm ums Herz, dann schloss er die Augen und schlief ein.

 

Von dieser Nacht an war alles anders. Tom wusste jetzt, dass er nicht alleine war und dass es jemanden gab, der in jeder Sekunde für ihn da war. Er musste Elias nur rufen, und schon stand er mit seinem weißen Blumen-T-Shirt neben ihm. Manchmal machte Elias ein paar Sprüche, die Tom zum Lachen brachten.

 

Zu zweit war alles leichter und Tom ließ sich nicht mehr so schnell einschüchtern. Immer wenn er dieses Ziehen im Bauch spürte, rief er Elias und schon hatte Tom ein warmes Gefühl. Denn die Angst war nicht von einem Tag auf den anderen verschwunden, so wie es sich Tom gewünscht hätte. Aber das Ziehen im Bauch wurde weniger und auch diese bestimmten Tage kamen nicht mehr so oft.

 

Im Herbst begann das neue Schuljahr und zu Toms Überraschung gab es plötzlich ein paar neue Mitschüler in der Klasse. Einer davon war war Timo, der zwei Jahre älter war als die anderen und vorher an einer anderen Schule war.

 

Tom hatte gleich ein wenig Angst vor Tim, denn er saß in der Klasse genau vor ihm und war mindestens einen Kopf größer. Und auch sonst war Timo ziemlich respekteinflößend. Er redete, wann er wollte, hörte nur zu, wenn es ihm gerade passte und ganz oft drehte er sich zu Tom um und fragte ihn, ob er Sachen von ihm haben dürfe.

 

Einmal war es sogar so, dass sich Timo von Tom einen Radiergummi auslieh und ihn nicht mehr zurückgab.

 

Und so kam es, dass sich Timo von Tom zuerst den Radiergummi borgte, dann eine Schere, dann das Lineal und so weiter. Nichts davon bekam Tom je wieder zurück. Tom blieb still und sagte nichts. Denn immer, wenn sich Timo zu ihm umdrehte, bekam Tom dieses Ziehen im Bauch.

 

Wie du dir vielleicht denken kannst, hatte Timo von den anderen längst erfahren, dass Tom ein Angsthase war und das spornte ihn umso mehr an, ihm etwas zuleide zu tun.

 

Eines Tages während der großen Pause trieb es Timo auf die Spitze. Tom saß mit Sven und Konrad auf einer Bank im Schulhof. Er holte gerade sein wunderschön verziertes Sandwich aus der Pausenbox, also Timo auf ihn zugerannt kam.

 

„Hey, darf ich mir das mal ausleihen?“ fragte er. Und schon hatte er sich Toms Pausenbrot geschnappt und haute damit ab.

 

„Hey, was machst du da?“ protestierten Konrad und Sven. Sie wussten, dass Tom immer ganz besonders leckere Sandwiches hatte und manchmal gab er ihnen ein Stück davon ab.

Tom fing an zu weinen.

 

Da drehte sich Timo noch einmal um und rief laut:

„Na, du Heulsuse? Hast du Angst vor mir?“

 

Tom wusste gar nicht, was er sagen sollte. Er wusste nur, dass er sein Pausenbrot, das wie ein Bärengesicht aussah, zurückhaben wollte. Während ihm die Tränen über die Wangen liefen, fiel ihm Elias plötzlich ein.

 

„Elias, bitte hilf mir!“, flüsterte Tom leise.

Doch wohin er auch schaute - kein Elias in Sicht. Wo war sein Freund denn? Er war doch sonst sofort da, wenn er ihn rief.

 

Noch einmal flüsterte er: „Elias, wo bist du? Bitte komm!“

Da hörte er plötzlich eine Stimme.

„Sag ihm deutlich, dass du keine Angst vor ihm hast. Was will der Typ? Hat doch selber die Hosen voll.“

Tom schluckte ein wenig.

„Na los, sag's ihm!“ wiederholte die Stimme.

 

Da spürte Tom wieder diese wundervolle Wärme rund um sein Herz und es kam ihm so vor, als würde jemand hinter ihm stehen und seine starken Arme um ihn legen. Plötzlich fasste er Mut.

 

„Vor dir habe ich keine Angst!“ rief Tom. Seine Stimme zitterte.

 

„Und jetzt nochmal. Aber laut“, sagte die Stimme.

 

Tom fasste sich ein Herz.

 

„Ich habe keine Angst vor dir!“ rief er so laut er konnte. Die anderen Schüler schauten alle zu ihm.

 

„Und jetzt sag ihm, dass er dir sofort dein Sandwich zurückgeben soll, aber fix.“

 

Tom stand auf und Sven und Konrad reihten sich wie Bodyguards links und rechts neben ihm auf.

 

„Gib mir sofort mein Pausenbrot zurück.“

Dann fügte er noch hinzu:

„Sonst sag ich es der Aufsicht.“

 

Sven und Konrad wunderten sich, denn so hatten sie Tom noch nie erlebt. Bewundernd schauten sie ihn an und stellten sich noch enger zusammen. Fast so, als würden sie jedem, der sich Tom auch nur ein Stückchen näherte, eine draufhauen wollen.

 

Mittlerweile hatte sich ein ganzes Grüppchen Schüler um sie herum versammelt, weil niemand etwas verpassen wollte. Und auch die Lehrer, die Aufsicht hatten, schauten zu ihnen herüber.

 

Und was war mit Timo?

 

Der kriegte es plötzlich mit der Angst zu tun und wurde ganz klein. Auf jeden Fall wollte er es vermeiden, mit den Lehrern Probleme zu kriegen. Denn die Schule wechseln wollte er nicht nochmal.

 

Etwas ungelenk und mit hochrotem Kopf drehte er sich um und gab Tom sein Pausenbrot zurück.

 

„Und wo ist mein Radiergummi, meine Schere und Lineal?“ fragte Tom mutig.

 

Er fühlte sich stark und befreit. Er wusste auch nicht genau, woher das plötzlich kam. Und er war sich auch nicht mehr sicher, ob er tatsächlich diese Stimme gehört hatte.

 

In der Klasse gab ihm Timo all seine Sachen wieder zurück. Er sah Tom nicht an und blieb auch den Rest des Vormittags ziemlich still.

 

Als Tom am Abend seinen Schulranzen für den nächsten Tag packte, merkte er, wie plötzlich jemand hinter ihm stand.

„Wo warst du heute?“ fragte Tom vorwurfsvoll.

Elias fing laut an zu lachen. Was sonst, denn er lachte fast immer.

 

„Hattest du Angst?“

 

„Timo hat mir die Pause geklaut und du warst nicht da!“ Tom war wütend auf ihn und fast fing er deshalb an zu weinen.

 

Wieder lachte Elias.

 

„Hey, sei mir nicht böse. Es ist ja nochmal alles gut gegangen. Und du hast dich wacker geschlagen. Wollte nur eine Kleinigkeit testen...“

Tom schaute ihn fragend an.

 

„Schon wieder dieses dreidimensionale Fragezeichen in deinem Gesicht! Na ja, ich wollte mal sehen, wie es um dein Vertrauen steht.“

Tom blieb weiter stumm.

 

„Also, ob du wirklich vertraust, dass ich da bin. Auch, wenn du mich nicht siehst. Alles klar?“

 

„Du warst aber nicht da!“ sagte Tom beleidigt.

 

„Doch, ich war da und hielt meine Hand über dich.“

 

„Wieso? Bist du ein Zauberer?“

 

„Nein, ich bin dein Schutzengel, kapiert?“

 

„Sieht so ein Schutzengel aus?“

 

„Was dachtest du denn?“ Elias lachte.

 

Da fing auch Tom an zu lachen.

 

Ab diesem Tag wurde Tom wirklich mutiger und hatte nicht mehr so viel Angst. Er wusste nun, dass Elias an seiner Seite war und dass er auf ihn zählen konnte. Egal, ob er sich zeigte oder nicht.

In dieser Nacht träumte Tom von Elias' Blumen-T-Shirt. Er würde seine Mama fragen, ob sie ihm nicht so eines kaufen könnte. Und hellgrüne Sneakers.

 

 

Copyright © 2018 Christina Vikoler