Das Geheimnis der Goldenen Drachen

 

Tom und Ida sind wieder mal bei Oma.

Mama und Papa arbeiten und Oma hat für ihre Enkelkinder gekocht. Heute gibt es Spaghetti mit Tomatensauce und Salat. Das ist Toms Lieblingsessen, aber Ida mag es auch.

 

Als Oma ihnen die Tür aufmacht, werfen die beiden ihre schweren Schulranzen in die Ecke und rennen in die Küche.

„Oma, ich habe einen riesen Hunger“, sagt Tom.

„Ich auch“, schreit Ida.

„Das trifft sich ja gut, denn ich habe gerade eine ganze Menge Nudeln ins Wasser geworfen. Die Sauce ist auch schon heiß. Kommt schnell, aber wascht vor dem Essen eure Hände!"

Die beiden laufen ins Bad.

Als sie zurück kommen, hat Oma schon den Tisch gedeckt und die Salatschüssel bereitgestellt.

„Dauert es noch lange?“ fragt Tom.

„Nein, das Essen ist gleich fertig. Hier probier mal.“

Oma hält Tom eine gekochte Spaghettinudel hin.

„Aber Vorsicht, sie ist sehr heiß“.

Tom nimmt die Nudel zwischen Daumen und Zeigefinger und bläst ein paar Mal kräftig. Sie ist wirklich heiß, sehr heiß sogar!

 

Es dauert noch ein paar Minuten, dann stellt Oma die dampfenden Spaghetti auf den Tisch.

Als Nachspeise gibt es Schokopudding, dann sind alle so satt, dass Ida sich ihren vollen Bauch hält.

Oma schaut Tom an und fragt:

„Du bist heute so ruhig. War's denn nicht gut in der Schule?“

Tom schaut betreten nach unten.

„Geht so.“

„Na, was war denn los, Tom. Komm sag schon.“

„Erwin hat gesagt, dass ich in Svenja verliebt bin.“

„Oh, wie kommt er denn darauf?“

„Tom ist verliebt, Tom ist verliebt“ sagt Ida mehrmals.

Tom wird knallrot und haut Ida mit der Hand auf den Kopf.

Ida fängt an zu weinen.

„Hört auf“, sagt Oma.

„Was ist denn passiert, Tom?“

„Svenja ist auf der Treppe hingefallen, als wir aus dem Handarbeitsraum kamen und ich habe ihr geholfen, ihre Sachen aufzuheben.“

„Das war sehr nett von dir, Tom“, sagt Oma.

„Und dann hat Erwin laut gerufen, dass ich in Svenja verliebt bin.“

„Was ist dann passiert?“

„Alle haben laut mitgerufen und über mich gelacht.“

„Oh nein! Und was hast du gemacht?“

„Ich bin zur Toilette und habe mich eingesperrt.“

„Oh, je! Du Ärmster. Das war ja nicht besonders nett von deinen Mitschülern.“

Oma nimmt Tom in den Arm.

„Wisst ihr was? Ich werde euch jetzt eine Geschichte erzählen, dann geht es dir wieder besser, Tom. Habt Ihr Lust auf eine Geschichte?“

„Au ja“ sagt Ida und läuft ins Wohnzimmer. Die drei machen es sich auf der weichen Couch gemütlich.

Draußen ist es plötzlich dunkel geworden und jetzt fängt es auch noch an zu regnen. Oma macht ein kleines Teelicht an.

„Also, ich erzähle euch die Geschichte von den Goldenen Drachen. Einverstanden?“

Tom und Ida nicken. Oma kann tolle Geschichten erzählen und Ida kuschelt sich ein wenig mehr in Omas Arme.

„Achtung, es geht los...“ sagt Oma.

 

„Es war einmal ein Land, das weit, weit im Osten lag. Das Land war riesengroß, fruchtbar und reich. Aber um dorthin zu gelangen, musste man durch weite Steppen reiten, breite Flüsse durchqueren und über hohe Berge steigen, auf denen es im Winter reichlich Schnee gab. Wer in dieses Land wollte, musste bereit sein, viele Strapazen und Entbehrungen auf sich zu nehmen, denn die Reise dauerte Wochen und Monate. Wenn man jedoch all diese Hindernisse überwunden hatte, gelangte man in das Reich der Mitte.“

 

„Das ist China!“ ruft Tom laut.

Oma muss lachen.

 

„Ja, China wird das Reich der Mitte genannt. Aber es war damals ein ganz anderes China als heute. Das Land war noch größer als heute und sehr, sehr fruchtbar. Überall gab es üppige Felder und Bäume, auf denen die süßesten Früchte wuchsen. Damals wurde das Land von einem Kaiser regiert, der große Macht hatte und dem das Wohl seiner Untertanen sehr am Herzen lag. Sein Name war Yung-Li.“

 

Oma macht eine kurze Pause, kräuselt die Nase und macht einmal laut „Hatschi“.

Nachdem sie sich mit einem Papiertaschentuch die Nase geputzt hat, erzählt sie weiter.

 

„Yung-Li und seine Frau waren bei den Menschen sehr beliebt, denn allen ging es gut im damaligen Reich der Mitte. Es gab genug zu essen und manch einer, der es geschickt anstellte, konnte sich durch Landwirtschaft und Handel ein kleines Vermögen erarbeiten. Yung-Li sorgte auch dafür, dass es keine Kriege gab, denn er versuchte, jeden Konflikt mit friedlich zu klären. Mit großer Geduld hörte er sich die Meinungen der unterschiedlichen Parteien an. Dann dachte er lange nach und versuchte, für alle die bestmögliche Lösung zu finden. So gab es lange Zeit Frieden und das Land florierte.“

 

Oma holt einmal tief Luft, dann geht es weiter. 

 

„Yung-Li war, wie gesagt, ein sehr weiser Kaiser. Er war besonnen und nur selten reagierte er mit einem Zornesausbruch. Eine Schwäche aber hatte der Kaiser. Er liebte prunkvolle Kleider und es war ihm wichtig, dass er nur die feinsten Stoffe trug. Die Möbel in seinem Palast waren aus den teuersten Hölzern gefertigt und hatten die edelsten Verzierungen. Dies alles bedeutete dem Kaiser viel, denn er stammte aus einer großen Kaiserdynastie. Sein Vater war schon Kaiser gewesen, so wie sein Großvater und Urgroßvater. Deshalb war er es von Geburt an gewohnt, von schönen und wertvollen Dingen umgeben zu sein. Aber das war auch seine einzige Schwäche, denn dem Land ging es gut und es herrschte Frieden. 

 

Eines Tages jedoch geschah etwas Unerwartetes. Ein fremder Reiter machte vor dem Palast des Kaisers Halt und bat um Einlass. Es war eine finstere Gestalt auf einem rabenschwarzen Pferd. Der Reiter sagte, er habe eine Depesche für den Kaiser, die er persönlich überbringen müsste.

Die Bediensteten fanden den Reiter furchterregend und wollten ihn nicht vorlassen. Doch die Ankunft des finsteren Reiters war schon bis in den Thronsaal durchgedrungen und der Kaiser, der nicht nur stark, sondern auch mutig war, befahl seinen Dienern und Wachleuten, den Reiter vorzulassen.

Als sich die dunkle Gestalt dem Thronsaal näherte, erschauderten die Bediensteten, weil sie eine so finstere Gestalt noch nie gesehen hatten. Der Reiter war in Schwarz gekleidet und auf dem Kopf trug er einen großen Hut, den er tief ins Gesicht gezogen hatte. Aber noch düsterer als das Aussehen des Fremden war seine Ausstrahlung. Jeder, der den schwarzen Reiter sah, dem lief ein eisiger Schauer über den Rücken.“

 

Oma hält kurz inne und sieht zuerst Ida, dann Tom an. Beide haben den Kopf ein wenig eingezogen und schauen ängstlich.

„Erzähl weiter“, sagt Ida und zieht Oma am Arm.

 

„Der schwarze Reiter wurde in den Thronsaal vorgelassen und der Fremde trat vor den Kaiser. Er verneigte sich tief und übergab dem Kaiser eine Pergamentrolle, die mit einem schwarzen Sigel verschlossen war.

Der Kaiser öffnete die Rolle und las. Und während er las, schwand das Blut immer mehr aus seinem Gesicht und als er zu Ende gelesen hatte, war er leichenblass.

Was in der Depesche stand, gefiel ihm ganz und gar nicht: Das Reich, das im Norden an sein Land grenzte, hatte dem Kaiser und seinem Volk den Krieg erklärt. Die feindlichen Truppen standen schon vor den Reichsmauern und warteten nur darauf, ins Land einzudringen und die Reichtümer zu plündern.

Das hatte der Kaiser nicht erwartet, denn mit dem König des Nachbarreiches hatte er immer friedliche Gespräche geführt. Doch es war ihm bereits zu Ohren gekommen, dass der König gestorben war und dass sein Schwiegersohn die Macht an sich gerissen hatte.

 

Der Kaiser brauchte nun Zeit zum Überlegen und so wurde der finstere Bote, der immer noch in gebeugter Haltung vor dem Kaiser stand, angewiesen, vor dem Palast zu warten.

Unterdessen scharte der Kaiser seine Berater um sich und man diskutierte darüber, was in dieser aussichtslosen Situation am besten zu tun sei. Wie es seine Art war, hörte sich der Kaiser die Meinung jedes einzelnen an, doch keiner seiner Berater konnte ihn wirklich überzeugen.

Daher befahl der Kaiser, alle weisen Frauen und Männer aus der Hauptstadt einzuberufen und sie nach einer Lösung zu befragen. Bald versammelten sich im Thronsaal die klügsten Menschen der Kaiserstadt und jeder einzelne machte einen Vorschlag, wie man das Eindringen des Feindes verhindern könnte.

Doch der Kaiser ließ sich für nichts gewinnen und so wurden alle wieder weggeschickt.

 

Als die Weisen den Thronsaal verlassen hatten, blieb nur noch eine alte Frau übrig. Niemand wusste, wie die Alte dort hingekommen war und wer sie eingeladen hatte. Denn ihr Aussehen war nicht gerade passend für einen Besuch beim mächtigsten Mann des Landes. Ihre Haare waren nicht gewaschen und fielen in Strähnen herab. Das Gewand war schmutzig und ihre Fingernägel waren an den Rändern tiefschwarz.

Die Berater des Königs blickten sich fragend an, denn es war mehr als rätselhaft, wer die Alte in den Palast gelassen hatte.

Aber da sie nun einmal vor dem Kaiser stand, fragte man auch sie nach einem Vorschlag.

Doch die Alte schaute die Berater, dann den Kaiser nur mit einem leerem Blick an.

Als man das Wort erneut an sie richtete, öffnete die Alte ihren fast zahnlosen Mund und sprach:

 

„Majestät! Ich habe gesehen, wie großes Unglück über euch und das Land kommt. Der Feind lauert vor den Mauern des Reiches und wartet nur darauf, einzudringen. Es sind viele dunkle Männer und sie tragen Waffen und haben Feuer und Kanonen. Es wird große Verwüstung und viel Unheil geben.“

Der Kaiser lauschte der Prophezeiung der Alten mit sorgenvoller Mine. Die Alte konnte nicht wissen, was in dem Brief genau stand, deshalb glaubte der Kaiser ihren Worten.

Die Berater indes schauten zuerst den Kaiser, dann die Frau an.

„So gebt Antwort auf unsere Frage und sagt eurer kaiserlichen Hoheit, was wir tun können, um die Soldaten aufzuhalten" forderten sie ungeduldig.

Die Alte blickte zu Boden und wiederholte nochmal:

„Es wird großes Unheil über euch und euer Land kommen. Viel Unglück wird geschehen. Ich sehe Feuer und Verwüstung, Tod und Trauer. Doch es gibt eine letzte Möglichkeit, um das Unglück noch abzuwenden. Eine andere Lösung gibt es nicht. Das ist eure letzte Hoffnung.“

Der Blick der Alten war immer noch zu Boden gerichtet.

„Gute Frau, so berichtet doch, was dies wäre.“ sprach der Kaiser.

Die Alte schaute jetzt dem Kaiser direkt in die Augen.

„Kein Mensch der Welt kann euch jetzt noch beistehen. Fast alles ist schon verloren. Nur noch die goldenen Drachen können euch helfen.“

 

Die goldenen Drachen? Die Berater und der Kaiser blickten sich ratlos an.

„So sprecht, gute Frau, wie uns die goldenen Drachen beistehen können“, sagte der Kaiser.

Die Mine der Alten hellte sich auf. 

„Die goldenen Drachen sind groß und mächtig. Mächtiger als ihr und jeder Herrscher dieser Welt. Sie besitzen eine Kraft, die sich kein menschliches Wesen jemals vorstellen kann. Mit ihnen ist alles möglich.“

Der Kaiser hatte der Frau gut zugehört und er wollte ihr glauben, denn in seiner Lage war ihre Antwort wirklich die allerletzte Hoffnung.

Die Berater jedoch zweifelten, ob die Frau die Wahrheit sagte und sie machten dem Kaiser heimlich ein Zeichen, dass es wohl besser wäre, die verrückte Alte wieder wegzuschicken.

Doch der Kaiser wehrte ab und bat die Alte weiterzusprechen.

„Die goldenen Drachen haben die Macht, den Feind in Sekundenschnelle in die Flucht zu schlagen. Bevor ihr euch gewahr seid, sind die Truppen des Feindes zerstört und die dunkle Macht ist gebannt. Doch ihr müsst ein Opfer dafür bringen. Ihr müsst euch die Hilfe der Drachen verdienen. Nicht ihr erwählt sie. Ihr werdet erwählt, wenn ihr dafür bereit seid.“

 

Als die Berater diese Worte hörten, waren sie schockiert und erbost. Die Alte wusste wohl nicht, dass sie es mit dem Imperator des Reiches der Mitte zu tun hatte!

Doch der Kaiser machte sich nichts aus dem, was seine Berater dachten und wandte sich an die Alte.

„So sprecht, was muss ich tun, dass mich die goldenen Drachen erwählen und sie mir ihre Hilfe zuteil werden lassen.“

Der Kaiser blickte sorgenvoll zu der Alten, die mit finsterer Mine zu Boden blickte.

 

„Kaiserliche Hoheit! Das Opfer, das ihr bringen müsst, ist groß. Vielleicht zu groß. Aber es liegt an euch, zu entscheiden, ob ihr bereit seid, es zu bringen. Um von den goldenen Drachen erhört zu werden, müsst ihr alles aufgeben, was ihr seid und was euch ausmacht. Eure Macht, eure Ländereien, euer Hab und Gut, eure Familie, eure Bediensteten. Ihr müsst gewillt sein, alles, was ihr seid und bisher wart, hinter euch zu lassen. So ihr euch dafür entscheidet, werdet ihr die Höhle der goldenen Drachen aufsuchen können. Die Höhle der goldenen Drachen liegt drei Tagesmärsche von hier entfernt und der Weg ist beschwerlich und nicht ohne Gefahr. Doch wenn es euer Wille ist, werde ich euch führen. Aber bedenkt, dass ihr dann kein Kaiser mehr seid.“

 

Was diese zahnlose Alte hier sagte, ging eindeutig zu weit. Die Berater des Kaisers sprangen auf, packten die Alte am Arm und zogen sie zum Ausgang.

Der Kaiser jedoch brach in Zorn aus und befahl, die Alte auf der Stelle wieder zurück zu bringen. Er wusste, dass sie seine Rettung war.

Als die Alte wieder vor dem Kaiser stand, sprach sie:

„Wenn es euer Wille ist, werde ich euch im Morgengrauen zu Diensten sein. Wenn der erste Schrei der Lerche ertönt, findet euch vor den Mauern der Stadt ein. Ich werde dort auf euch warten und euch zu den goldenen Drachen führen. Aber bedenkt, dass ihr zuerst alles aufgeben müsst, was ihr seid und was ihr habt. Die Drachen haben die Macht zu bestimmen, dass der Feind mit seinem Angriff noch wartet. Doch es bleibt uns nicht mehr viel Zeit. Und jetzt lasst mich gehen. Im Morgengrauen werde ich wissen, wie ihr euch entschieden habt.“

Die Berater des Königs stürzten sich auf die Alte und zerrten sie aus dem Palast.

 

„Ich muss aufs Klo“, sagt Ida.

„Na dann, nichts wie los“, antwortet Oma.

„Aber mach schnell, ich will wissen, wie es weitergeht.“ ruft Tom Ida nach.

Oma geht in die Küche und stellt eine Kanne Hagebutten-Tee auf. Draußen ist es noch dunkler geworden und es schüttet jetzt richtig. Was für ein Wetter! Aber es ist ja auch April.

„Wer will Kekse?“ fragt Oma, als sie mit einem kleinen Teller in der einen und mit der Teekanne in der anderen zurück ins Wohnzimmer kommt.

Tom greift natürlich zu und auch Ida holt sich einen von Omas selbstgemachten Schokokeksen. Lecker!

„Oma, bitte weiter“, ruft Ida mit vollem Mund.

„Jetzt esst mal eure Kekse“ sagt Oma.

Doch der Teller ist schneller leer, als sich Oma umsehen kann und so erzählt sie weiter.

 

„Am nächsten Tag wartete die zahnlose Alte vor den Mauern der Stadt. Im Morgengrauen, als die Nacht langsam dem Tag wich, ertönte der Gesang der Lerche. Es war der vereinbarte Zeitpunkt, zu dem sich der Kaiser an dem Ort einfinden sollte. Die Alte schaute sich um. Vor den Toren der Stadt war niemand, bis auf einen Bettler, der sich fest in eine braune Wolldecke eingehüllt hatte. Der Bettler war barfuß und das einzige, was er bei sich trug, war ein heller Beutel aus Stoff.

Als sich die Alte dem Bettler näherte, drehte er sich um und entblößte seinen Kopf. 

„So führt mich nun zu den goldenen Drachen, gute Frau“, sagte der Bettler.

Die Alte erschrak, denn ihre Augen waren schlecht und sie hatte nicht bemerkt, mit wem sie es zu tun hatte. Doch die Stimme Bettlers ließ ihr keinen Zweifel und deshalb wusste sie, wer dieser Bettler war. 

 

Sie gingen bis zum frühen Nachmittag, ohne auch nur eine Rast einzulegen. Die Sonne brannte vom Himmel und die Wege waren steinig und schlecht. Doch der Kaiser, der ohne Schuhe unterwegs war und lediglich eine Wasserflasche und ein Stück Brot in seinem Beutel hatte, beschwerte sich nicht und auch die Alte war gut zu Fuß.

Am Nachmittag wurde die Landschaft hügeliger und die Vegetation grüner.

„Unser Weg bis zum Nachtlager ist nicht weit. Wir wollen uns in einem Laubwald niederlassen und dort ein wenig schlafen“, sagte die Alte. Sie hatte den ganzen Tag weder Wasser getrunken, noch feste Nahrung zu sich genommen.

 

An nächsten Tag wanderten die beiden weiter. Diesmal waren die Wege noch steiniger und beschwerlicher. Der Kaiser, der nun kein Kaiser mehr war, hatte sich mehrfach die Füße aufgeschlagen und aus vielen kleinen Wunden sickerte das Blut. Die Alte nahm erneut nur etwas Wasser und ein paar getrocknete Beeren zu sich. Obwohl sie alt und gebrechlich war, schien ihr der Fußmarsch nichts auszumachen.

In der Nacht schliefen sie in einem kleinen Föhrenwald auf einer von Moos bedeckten Fläche, das sich gut als Nachtlager eignete. 

 

Im Morgengrauen standen sie auf und machten sich auf den Weg. Sie waren bereits zwei Tage gewandert und bis zu den goldenen Drachen durfte es nicht mehr weit sein. 

Die Pfade, auf denen sie wanderten, wurden jetzt immer schmaler und steiler und plötzlich stellte der Kaiser, der nun kein Kaiser mehr war, überrascht fest, dass sie sich mitten in einem Gebirge befanden. Seine Füße waren ziemlich wund gelaufen und bei jedem Bach, an dem sie vorbei kamen, steckte er seine Füße ins Wasser, um seine Schmerzen zu lindern.

 

Als es schon dämmerte, durchquerten sie einen dunklen Wald mit hohen, uralten Bäumen. Das wenige Licht brach schwach durch die Baumkronen und Yung-Li und die Alte mussten achtgeben, wohin sie traten. Im Wald herrschte eine beinahe unheimliche Stille. Bis auf ein paar Vogelstimmen hörte man nichts.

 

Tom und Ida kuscheln sich jetzt etwas näher an Oma heran. Den beiden gruselt es ein wenig, sie wollen aber unbedingt wissen, was jetzt geschieht. Oma sieht Ida an und streichelt ihr sanft über den Kopf.

 

„Als sich die beiden einem riesigen bemoosten Felsblock näherten, drehte sich die Alte plötzlich um und flüsterte:

'Hier ist es. Die Höhle der goldenen Drachen. Seid leise, damit wir sie nicht erschrecken. Wir lassen uns hier nieder und warten.'

 

Der Kaiser, der kein Kaiser mehr war, wickelte sich in seine schwere Decke, legte sich auf den Boden und schlief von einer Sekunde auf die andere ein. Er war todmüde und erschöpft. Auch die Alte sammelte ein paar Blätter ein und machte sich daraus ein Lager.

 

Irgendwann, als es bereits stockdunkel war, wachte Yung-Li von einem lauten Donnergrollen auf. Er dachte an ein Gewitter, doch die Alte zog ihn am Ellenbogen und flüsterte ihm zu: 'Es ist soweit. Die goldenen Drachen geben uns die Ehre. Tut gar nichts und wartet, bis ich euch ein Zeichen gebe und ihr reden könnt.'

 

Das Donnergrollen kam jetzt immer näher und dumpfes Fußgetrampel war zu hören. 

Aus der Höhle kam Licht und plötzlich sah Yung-Li wie ein Wesen, das von oben bis unten in goldenes Licht gehüllt war, vor die Höhle trat.

 

Der Drache war gewaltig und noch nie im Leben hatte Yung-Li etwas Schöneres und Mächtigeres gesehen. Er machte ein paar Schritte zurück und sah, wie das goldene Wesen ihn musterte.

Plötzlich riss der Drache sein Maul auf und ein heftiges Donnergrollen kam hervor, sodass Yung-Li vor lauter Schreck nach hinten fiel.

Doch der Drache ließ ihn nicht aus den Augen und grollte weiter.

 

„Wer seid ihr?“ sagte eine Stimme.

Hilfesuchend blickte sich Yung-Li nach der Alten um, die ihm das verabredete Zeichen machte. Er sollte nun sprechen.

„Verehrte Drachen, ich bin Yung-Li, Kaiser des großen Reiches der Mitte und ich bin gekommen, um...“

Er trug seine Bitte vor und erzählte, dass sich sein Reich in einer misslichen Lage befände, dass vor den Mauern des Landes feindliche Truppen stünden, die nur darauf warteten, alles zu zerstören.

Er redete und redete, doch als er sich zur Alten umblickte, bemerkte er, wie sie zornig mit ihren Händen herumfuchtelte. 

Zunächst verstand er nicht, aber bald schon wurde ihm klar, dass er einen großen Fehler begangen hatte. Er verstummte und blickte beschämt zu Boden.

Durch seine eigene Dummheit hatte er alles verspielt und seine womöglich letzte Chance vertan.

Die Alte hatte ihn gewarnt, dass er alles aufgeben müsste. Doch er hatte sich zwar die Kleider eines Bettlers umgelegt, war aber ein stolzer Kaiser geblieben.

 

Der goldene Drache fing an zu lachen.

'Du willst der Kaiser des Reiches der Mitte sein? Schau dich an. Du besitzt nichts und siehst aus wie ein Bettler. Noch nie haben wir einen so jämmerlichen Kaiser gesehen.'

Während sich der Drache über ihn lustig machte, sah Yung-Li, wie aus der Höhle weitere Drachen kamen. Sie alle waren in ein goldenes Licht gehüllt und erhellten die dunkle Nacht. Die Drachen fielen in das Lachen mit ein und amüsierten sich über den angeblichen Kaiser.

 

Yung-Li nahm nun all seinen Mut zusammen und trat vor die Gruppe der Drachen.

 

'Verehrte goldene Drachen! Ich kann verstehen, dass ihr euch über mich amüsiert. Ich bin kein Kaiser, sondern ein wahrer Dummkopf. Bitte verzeiht mir meinen Hochmut. Doch seht, ich bin Yung-Li, ein Mensch, der keinen Besitz mehr hat. Um euch aufzusuchen habe ich alles hinter mir gelassen, meine Macht, meine Familie, meinen Reichtum und meine Bediensteten. Es geht um das Land und die Menschen, die ich einst regierte. Nie habe ich Kriege geführt und jetzt ist das Reich der Mitte von einer dunklen Macht bedroht. So seid ihr meine letzte Hoffnung und ich bitte euch, mir zu helfen.'

 

Yung-Li redete und redete und dann fiel er auf die Knie, um zu zeigen, dass er es wirklich ernst meinte. Der Schweiß tropfte ihm von der Stirn.

Die Drachen hatten die ganze Zeit zugehört und jetzt schauten sie mitfühlend auf Yung-Li herab, der die Hände zum Gebet gefaltet hatte.

 

Dann sprach einer der Drachen:

'Yung-Li, du bist ein wahrer Dummkopf! Wir kennen dich und wissen, welche Verantwortung du für dein Volk trägst. Wir wissen, dass du alles aufgegeben hast, um zu uns zu kommen und dass dein Herz nicht verdunkelt ist. Du warst ein guter Kaiser und hast nicht nur auf dich, sondern auch auf das Wohl deiner Untertanen geachtet. Deshalb wollen wir dir helfen. Doch was ist mir dir? Bist du weiter bereit, ein Leben als Bettler zu führen?'

 

Yung-Li dachte nach: Schon drei Tage lang lebte er nicht mehr das Leben eines Kaisers. Vor seinem inneren Auge zog sein Leben vorbei, seine schöne Frau, seine wunderbare Tochter, seine kostbaren Gewänder und Juwelen, der Palast und die herrlichen Ländereien, die er besaß. Für einen kurzen Moment wollte er sein altes Leben zurück. Doch dann dachte er an seine Untertanen und sprach:

 

'Verehrte Drachen, ja das bin ich. Ich werde das Leben eines Bettlers führen, wenn nur mein Volk in Sicherheit und Frieden weiterleben kann.'

 

Die Drachen lächelten und ihr Licht schien jetzt noch goldener.

 

'So wollen wir dir helfen. Tretet jetzt euren Heimweg an. Vergesst uns nicht und erzählt den Menschen, dass es uns gibt und dass wir jenen helfen, deren Herz rein und deren Absicht gut ist. Lebt wohl!'

 

Yung-Li warf sich auf den Boden und sprach den goldenen Drachen seinen innigsten Dank aus.

Als er sich wieder aufrichtete, waren die Drachen verschwunden.

 

Dann machten sich er und die Alte auf den Heimweg.

 

Sie gingen und gingen auch diesmal legten sie wieder kaum eine Rast ein.

Als sie am übernächsten Tag endlich die Stadtmauern erreichten, ging die Sonne schon fast unter. Hungrig und todmüde sanken Yung-Li und die Alte unter einem Baum zu Boden. Sie ruhten sich eine Weile aus, dann holten sie Wasser aus der Zisterne, die es in der Nähe gab, und löschten ihren Durst. Yung-Lis Füße waren voller Blasen und blutender Wunden. Seine ganze Gestalt wirkte eingefallen und hatte nichts mehr von der Ausstrahlung eines Kaiser.

 

'Yung-Li' rief die Alte plötzlich.

Wie von einer Tarantel gestochen, sprang sie auf und sprach:

'Vor den Reichsmauern kommt etwas in Bewegung! Die dunkle Macht macht sich bereit für den Angriff. Es ist ein riesiges Heer, ich kann es sehen! Die Männer zünden ihre Brandpfeile an. Überall steigt dunkler Rauch auf. Ich sehe großes Unheil auf uns zukommen...'

 

Yung-Lis Stirn legte sich in Falten. Sein Atem stockte und sein Herz schnürte sich zu. War denn die mühevolle Reise zu den Goldenen Drachen umsonst gewesen?

 

Da sah die Alte, wie mit einem Mal alle Brandpfeile wieder zurück zu den Angreifern flogen und das feindliche Heer Feuer fing. Das war aber erst der Anfang. Denn auf einmal ertönte ein lautes Donnergrollen und die Alte konnte sehen, wie eine Gruppe goldener Drachen auftauchte und wie durch Magie über die Angreifer hinweg trampelte. Sie rissen ihre Mäuler weit auf und ließen das Grollen noch lauter werden. Die Soldaten erschraken so sehr, dass sie ihre Waffen fallen ließen und so schnell es ging das Weite suchten.

Die Anführer jedoch wollten sich nicht geschlagen geben. Mit ihren Schwertern traten sie den goldenen Drachen entgegen, was natürlich völlig umsonst war. Denn die Drachen hoben einfach ihre Pranken und schleuderten die Männer durch die Luft.

Die goldenen Drachen waren wie ein Orkan, der über die feindlichen Truppen hinweg fegte. Überall, wo Gefahr drohte, stellten sie sich den Angreifern in den Weg, bis es keiner der dunklen Männer mehr wagte, sich ihnen entgegenzustellen.

All das sah die Alte wie in einem Film.

Vor Erleichterung fiel Yung-Li auf die Knie und dankte den goldenen Drachen.

Sein Reich, das er über Jahrzehnte regiert hatte, war nun in Sicherheit. Seine Familie und die Berater würden einen anderen zum Kaiser ernennen und er würde ein Leben als Bettler führen.

 

Mit diesen Gedanken befiel Yung-Li eine Müdigkeit, die er so noch nicht gekannt hatte. Er breitete seine Decke aus und schlief auf der Stelle ein. Im Schlaf jedoch kamen die goldenen Drachen zu ihm.

 

Sie sagten ihm, dass er aufstehen und sich in den Kaiserpalast begeben sollte. Dort würden seine Familie, seine Bediensteten und Berater auf ihn warten. Die goldenen Drachen sagten auch, dass es ihr Wunsch wäre, dass Yung-Li sich auf den Kaiserthron setzte. Denn er habe die Prüfung bestanden und jetzt sei es an der Zeit, dass er seinen Platz als friedlicher Herrscher wieder einnähme. Zusammen mit den goldenen Drachen würde er das Land noch viele Jahre regieren.

 

Als Yung-Li aus dem Schlaf erwachte, tat er alles, was die Drachen ihm im Traum gesagt hatten.

Im Kaiserpalast wurde er jubelnd empfangen, denn die Nachricht von den feindlichen Truppen, die wie durch ein Wunder zerstört worden waren, war bereits in den Palast vorgedrungen.

 

Yung-Li herrschte noch viele Jahre über das Reich der Mitte. Er regierte weise und die goldenen Drachen standen ihm immer zur Seite. Die Alte jedoch lebte als hoch geachtete Seherin im Kaiserpalast und wurde über 150 Jahre alt.“

 

Oma schaut abwechselnd zu Tom und Ida. Die beiden lächeln.

„Das war eine schöne Gesichte“ sagt Ida.

„Ja! Toll, was die goldenen Drachen alles können“

Oma schaut Tom liebevoll an und stupst ihn mit dem Finger an die Nase.

„Und weißt du was? Die Geschichte ist hier noch nicht zu Ende. Denn die goldenen Drachen haben mir ein Geheimnis verraten.“

Tom schaut Oma fragend an.

„Du weißt ja, die goldenen Drachen helfen jedem, der ein reines Herz hat und gute Absichten hat. Wenn sie Yung-Li helfen konnten, helfen sie auch dir. Das haben mir die goldenen Drachen verraten, denn es gibt sie wirklich. Probier es doch einfach mal aus.“

„Echt jetzt, Oma?“

 

Am nächsten Morgen macht Tom ein Experiment. Während er sich die Zähne putzt, ruft er die goldenen Drachen und bittet sie, heute in der Schule gut auf ihn aufzupassen. Und, was denkst du, wie es Tom an diesem Tag ergeht?

 

Als Tom nach dem Unterricht zu Oma kommt, fragt sie ihn:

„Und, wie war's in der Schule?“

Oma sieht, dass Tom übers ganze Gesicht strahlt. 

„Du glaubst nicht, wie es heute war. Niemand hat mehr etwas wegen Svenja gesagt und alle haben mich in Ruhe gelassen. Sogar Erwin hat mir die Hälfte seiner Jause geschenkt. Und weißt du noch was? In Mathe habe ich ein Eins bekommen und die Lehrerin hat mich gelobt, wie toll ich die Aufgaben gelöst habe.“

Oma lächelt und sagt:

„Dann werde ich mal versuchen zu erraten, mit wem du heute Morgen gesprochen hast...“

„Mit den goldenen Drachen natürlich!“ ruft Tom. „Danke, dass du uns gestern ihre Geschichte erzählt hast!“

Und ein Kuss von Tom landet auf Omas Wange.

 

 

 

Copyright © 2018 Christina Vikoler