Der entlaufene Tiger

 

„Als ich vor vielen Jahren durch Indien reiste, lernte ich eines heißen Nachmittags an einem Bahnhof einen Mann kennen. Der Mann war ziemlich klein und dünn und seine Hautfarbe schimmerte so dunkel, dass sie fast schwarz erschien. Wie es aussah, musste er eine kurze Fahrt vor sich haben, denn sein einziges Reisegepäck war ein weißer Stoffbeutel, aus dem eine alte Thermosflasche herausschaute. 

 

An jenem Tag hielten sich auf den Bahnsteigen sehr viele Menschen auf und es herrschte überall eine hektische Stimmung. Doch trotz der flirrenden Energie um ihn herum strahlte der Mann eine tiefe Ruhe aus.   

Der Mann und ich saßen auf derselben Holzbank und warteten auf den selben Zug. Als ich den Mann aus den Augenwinkeln etwas näher betrachtete, fiel mir auf, dass sein Gesicht und seine Arme von unzähligen Narben übersät waren. Ich dachte, dass der Mann entweder einen schweren Unfall oder eine schlimme Krankheit gehabt haben musste.

 

Eine ganze Weile saßen wir schweigend nebeneinander und schauten dem unruhigen Treiben der Menschen zu, doch irgendwann kamen wir ins Gespräch. Der Narbenmann erzählte mir, dass er Wächter sei in einem großen Zoo in der Hauptstadt. Ich fragte ihn, ob ihm sein Job gefiele und er antwortete mir, dass dem so sei, aber dass seine Arbeit manchmal sehr gefährlich wäre. Er zeigte auf seine vielen Narben und da wurde mir klar, dass es keine Krankheit war, die seinen Körper so verunstaltet hatte. 

Der Mann hatte meine Blicke wohl bemerkt, denn er erzählte mir, dass er zuerst in einem anderen Zoo im Süden des Landes als Wächter gearbeitet hatte.

 

Eines Tages war dort aus dem Tigergehege eines der Tiere ausgebrochen. Wie das geschehen konnte, wusste der Mann auch nicht, weil immer streng darauf geachtete wurde, dass der Eingang zum Gehege mit drei Ketten verriegelt war. Jedenfalls war ein Tigermännchen ausgebrochen und das war sehr gefährlich, denn es war Paarungszeit und die Männchen waren auf der Suche nach einer weiblichen Gefährtin. 

 

Im Zoo brach sofort Panik aus. Alle Besucher mussten das Zoogelände auf schnellstem Wege verlassen und die Wächter wurden zusammengerufen, um den Tiger zu suchen und in sein Gehege zurück zu bringen.

Die Männer bewaffneten sich mit Holzstöcken, Messern und einigen Netzen, bildeten kleine Grüppchen und scharten in alle Richtungen aus, um das Tier so schnell wie möglich einzufangen.

 

Der Nachmittag verging und es gab nicht die geringste Spur von dem entflohenen Tiger. Die Wächter wurden langsam nervös und waren bei jedem einzelnen Schritt auf der Hut, denn der Tiger konnte jede Sekunde aus dem Gebüsch hervorspringen und einen der Männer anfallen.

 

Als es nach erfolgloser Suche langsam Abend wurde, waren die Männer müde und einige wollten sich schon auf den Weg nach Hause zu ihren Familien machen. Doch der Narbenmann wollte nicht aufgeben, denn der Tiger lief noch frei herum und war nicht nur für die Wächter eine große Gefahr, sondern auch für die anderen Tiere.

Er beschwor die Männer, ruhig zu bleiben und bat sie, einige Minuten lang nichts zu tun und sich nicht zu bewegen. Denn der Narbenmann wollte etwas ausprobieren. 

 

Er setzte sich vor den Augen der anderen Wächter mit gekreuzten Beinen auf einen Stein, schloss seelenruhig die Augen und begann zu meditieren. Die Wächter schüttelten nur so den Kopf, denn sie dachten, dass der Mann komplett übergeschnappt war. Die Situation, in der sie sich befanden, war lebensgefährlich und sie waren überzeugt, dass sich ihr Kollege freiwillig den Klauen des Tigers aussetzen wollte.

 

Doch nachdem ein paar lange Minuten verstrichen waren, öffnete der Mann die Augen, faltete die Hände vor der Brust, beugte seinen Oberkörper ein paar Mal von hinten nach vorne und brabbelte Worte, die die anderen nicht verstanden. Dann sah er die Wächter mit starrem Blick an und sagte ihnen, dass sie in der Nähe des Elefantengeheges nach dem Tiger suchen mussten.

 

Die Männer schauten den Narbenmann zuerst skeptisch an, doch dann machte sich der ganze Trupp auf zu dem Gehege, in dem eine ganze Elefantenfamilie lebte.

Die Wächter merkten sofort, dass etwas nicht stimmte, denn die Elefanten waren ziemlich unruhig. Sie liefen die ganze Zeit im Kreis, schüttelten ihre Köpfe und scharrten mit den Füßen.

Der Tiger musste also ganz in der Nähe sein.

 

Als die Wächter nur noch etwa drei Meter vom Elefantengehege entfernt waren, schoss ganz plötzlich die Raubkatze aus dem Gebüsch hervor, machte einen Satz nach vorne und fiel geradewegs über den Mann, der später viele Narben haben sollte, her.

Die Wächter schrien laut und schlugen mit ihren Stöcken auf Tigermännchen ein. Das Tier aber wollte nicht von dem Mann ablassen und schlug seine mächtigen Krallen noch tiefer in die Haut des Mannes. Wieder schrien die Männer laut und schlugen mit ihren Stöcken auf den Tiger ein.

Diesmal half es, denn die Raubkatze ließ mit einem Fauchen von dem Mann, der jetzt blutend am Boden lag, ab und zog sich in sein Versteck zurück, wo er ziemlich laut und lange brüllte.

 

Die Wächter waren sich sicher, dass er noch einmal angreifen würde und so versuchten sie, den Mann, der über und über voller hässlicher Wunden war, aus der Gefahrenzone zu bringen. Der Mann jedoch wehrte sich und setzte sich trotz seiner vielen Verletzungen auf einen Stein. Er begab sich in den Schneidersitz, schloss langsam die Augen und fing wieder an zu meditieren.

Während er so still dasaß und aus seinen Wunden das Blut nur so strömte, geschah ein kleines Wunder.

Der Tiger hörte plötzlich auf zu brüllen und kam langsam und in gebückter Haltung aus seinem Versteck hervor. Beinahe sah es so aus, als wäre er voller Reue und Schuldgefühle.

 

Die Wächter fürchteten sich zuerst, dann aber erkannten sie die Gunst des Augenblicks und reagierten sofort. Sie warfen ihre Netze über den Tiger und verknoteten die Enden, sodass er nicht mehr entweichen konnte. Dann brachten sie das Tier wieder zurück in sein Gehege. Der Tiger hatte jeglichen Widerstand aufgegeben und war völlig friedlich.

 

Nun fragt ihr euch bestimmt, wie der Narbenmann das gemacht hatte und ob er ein Zauberer war. Das wollte ich natürlich auch wissen und fragte den Mann, wie es ihm gelungen war, den Tiger zu zähmen.

Der Narbenmann lächelte nur, sagte nichts und schaute ruhig in die Menschenmenge vor uns. Dann sah er mich an und fragte, ob ich denn noch nie etwas von der Kraft der Gedanken gehört habe. Ich verneinte, denn ich wusste tatsächlich nichts davon.

Der Narbenmann erzählte mir, dass er, während er im Schneidersitz saß, zuerst einmal seinen Atem beruhigt und sich dann mit aller Kraft auf ein Bild konzentriert hatte. Er stellte sich vor, dass dem Tiger in seinem Versteck langweilig war und dass er fand, dass es keine gute Idee gewesen war, aus seinem sicheren Gehege auszubrechen. Der Tiger bereute seinen Ausflug, gab seinen Kampf freiwillig auf und kam friedlich aus seinem Versteck hervor, weil er großes Heimweh nach seinem Gehege hatte. In der Vorstellung des Narbenmannes war alles genau so, wie es sich anschließend tatsächlich ereignet hatte. Nur mit Konzentration und der Kraft seiner Gedanken hatte der Mann es erreicht, dass aus einem wilden Tiger ein zahmer, friedlicher Tiger wurde.

„Krass“, sagte Sebastian.

„Was ist denn aus dem Narbenmann geworden?“ 

„Ich weiß es nicht, denn als seine Erzählung zu Ende war, fuhr der Zug ein und wir haben uns aus den Augen verloren. Den Narbenmann und seine Geschichte habe ich allerdings bis heute nicht vergessen.“

 

 

Copyright © 2018 Christina Vikoler